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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten
Autoren: Michail Bulgakow
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wie viele andere. Merkwürdig, warum hatte sie in der Kälte nichts auf dem Kopf und trug nur die Bluse? Und wo kam sie her? Wer war sie? Die Sprechstunde bei uns in Lewkowo ging zu Ende, die letzten Bauernschlitten fuhren nach Hause, und zehn Werst im Umkreis wohnte kein Mensch. Nebelschwaden, Sümpfe, Wälder! Dann plötzlich rann mir kalter Schweiß den Rücken hinunter – ich hatte begriffen! Das Weiblein lief nicht, es flog, ohne die Erde zu berühren. Ein starkes Stück, was? Aber nicht das entriß mir den Schrei, sondern der Umstand, daß sie eine Heugabel in der Hand hielt. Warum erschrak ich so? Warum? Ich fiel auf ein Knie nieder und schlug die Hände vors Gesicht, um die Alte nicht zu sehen, dann machte ich kehrt, lief humpelnd zum Haus wie zu einem rettenden Ort und wünschte nichts als das eine, daß mir nicht das Herz stehenblieb, daß ich schleunigst in warme Räume käme, die lebendige Anna sähe … und Morphium …
    Und ich schaffte es.
     
    Quatsch. Eine nichtige Halluzination. Eine zufällige Halluzination.
    19. November
    Erbrechen. Das ist schlecht.
    Nächtliches Gespräch mit Anna am Einundzwanzigsten.
    Anna: Der Feldscher weiß es.
    Ich: Wirklich? Egal. Unwichtig.
    Anna: Wenn du nicht in die Stadt fährst, häng ich mich auf. Hörst du? Sieh bloß mal deine Hände an, sieh sie dir an.
    Ich: Sie zittern ein bißchen. Das stört mich überhaupt nicht bei der Arbeit.

    Anna: Ganz durchsichtig sind sie. Haut und Knochen  … Sieh dein Gesicht an. Höre, Serjosha, fahr weg, ich beschwöre dich, fahr weg …
    Ich: Und du?
    Anna: Fahr weg. Fahr weg. Du gehst zugrunde.
    Ich: Na, das ist übertrieben. Aber ich begreife tatsächlich nicht, warum ich so schnell von Kräften gekommen bin. Ich bin doch noch nicht mal ein Jahr krank. Es liegt wohl an meiner Konstitution.
    Anna: (traurig): Was kann dich dem Leben zurückgeben? Vielleicht diese Amneris, deine Frau?
    Ich: O nein, beruhige dich. Dem Morphium sei gedankt, es hat mich von ihr befreit. Statt ihrer hab ich das Morphium.
    Anna: Ach, mein Gott, was soll ich tun?
     
    Ich hatte gedacht, solche Frauen wie Anna gäbe es nur in Romanen. Falls ich gesunde, werde ich mein Schicksal für immer mit ihr verbinden. Der andere soll in Deutschland bleiben.
    27. Dezember
    Schon lange habe ich das Heft nicht zur Hand genommen. Ich bin warm eingemummt, die Pferde warten. Bomhart hat sein Revier in Gorelowo verlassen, und ich soll ihn ablösen. Mein Revier übernimmt eine Ärztin.
    Anna bleibt hier. Sie wird mich besuchen.
    Allerdings sind es dreißig Werst …
    Wir haben beschlossen, daß ich am ersten Januar einen Monat Krankheitsurlaub nehme und zum Professor nach Moskau fahre. Ich werde wieder meine Unterschrift leisten und einen Monat lang in seiner Klinik unmenschliche Qualen ausstehen.
    Leb wohl, Lewkowo. Auf Wiedersehen, Anna.

    1918
    Januar
    Ich bin nicht gefahren. Ich kann mich nicht trennen von meinem Gott, den aufgelösten Kristallen.
    Während der Kur würde ich sterben. Immer öfter kommt mir der Gedanke, daß ich keine Heilung brauche.
    15. Januar
    Erbrechen am Morgen. Drei Spritzen vierprozentiger Lösung in der Dämmerung. Drei Spritzen vierprozentiger Lösung in der Nacht.
    16. Januar
    Heute ist Operationstag, darum große Enthaltsamkeit von der Nacht bis sechs Uhr abends.
    In der Dämmerung, der schlimmsten Zeit, war ich schon zu Hause, da hörte ich deutlich eine Stimme, die monoton und drohend immer wieder sagte: Sergej Wassiljewitsch, Sergej Wassiljewitsch.
    Nach der Injektion hörte das sofort auf.
    17. Januar
    Schneesturm, keine Sprechstunde. Während der Enthaltsamkeit las ich in einem Lehrbuch für Psychiatrie, und es wirkte niederschmetternd auf mich. Ich bin verloren, keine Hoffnung mehr.
    Ich erschrecke vor jedem Rascheln, und während der Enthaltsamkeit sind mir die Menschen verhaßt. Ich habe Angst vor ihnen. Während der Euphorie liebe ich sie alle, dennoch ziehe ich die Einsamkeit vor.
     
    Hier muß ich aufpassen, denn hier sind ein Feldscher und zwei Hebammen. Ich muß sehr darauf achten, mich nicht zu verraten. Ich bin gewitzt, ich werde mich nicht verraten. Niemand wird etwas erfahren, solange ich einen Vorrat an Morphium habe. Die Lösung bereite ich selbst, oder ich schicke das Rezept rechtzeitig Anna. Einmal hat sie den – törichten – Versuch gemacht, mir statt der fünfprozentigen eine zweiprozentige Lösung unterzuschieben. Sie brachte sie mir von Lewkowo bei Kälte und Schneesturm.

    Wir hatten deswegen einen
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