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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten
Autoren: Michail Bulgakow
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auf durch größte Willenskraft auszeichne.
    2. März
    Gerüchte von etwas Grandiosem. Nikolaus II. soll gestürzt sein. Ich lege mich sehr früh schlafen. Gegen neun. Und schlafe herrlich.
    10. März
    Dort ist Revolution. Die Tage werden länger, die Dämmerung erscheint noch bläulicher.
    Solche Träume gegen Morgen habe ich noch nie gehabt. Es sind doppelte Träume.
    Der Haupttraum ist, ich möchte sagen, gläsern. Durchsichtig.
    Da sehe ich eine unheimlich leuchtende Lampe, aus der eine bunte Lichterkette hervorsprüht. Amneris singt mit wippender grüner Feder. Ein ganz unirdisches Orchester spielt ungewöhnlich volltönend. Aber ich kann das nicht mit Worten wiedergeben. Kurzum, in einem normalen Traum ist die Musik klanglos … (in einem normalen? Es ist noch sehr die Frage, welcher Traum normaler ist! Doch ich scherze), aber in meinem Traum klingt sie geradezu himmlisch. Und das Wichtigste, ich kann sie nach meinem Willen verstärken oder abschwächen. Ich erinnere mich, daß in »Krieg und Frieden« beschrieben wird, wie Petja Rostow im Halbschlaf einen ähnlichen Zustand erlebt. Lew Tolstoi ist ein großartiger Schriftsteller!
    Jetzt zur Durchsichtigkeit: Durch die schillernden Farben »Aidas« sehe ich ganz real die Kante meines Schreibtisches
in der offenen Tür des Arbeitszimmers, die Lampe, den glänzenden Fußboden, und durch die Orchesterwoge des Bolschoi-Theaters höre ich deutliche Schritte, angenehm wie dumpfe Kastagnetten.
    Also ist es acht Uhr – Anna K. kommt, um mich zu wecken und mir mitzuteilen, was im Sprechzimmer los ist.
    Sie ahnt nicht, daß sie mich nicht zu wecken braucht, daß ich alles höre und mit ihr sprechen kann.
    Gestern habe ich folgenden Versuch gemacht:
    Anna: »Sergej Wassiljewitsch …«
    Ich: »Ich höre …« (Leise zur Musik: »Stärker.«)
    Die Musik ertönt in einem großen Dis-Akkord.
    Anna: »Zwanzig Patienten haben sich angemeldet.«
    Amneris singt …
    Aber das läßt sich auf dem Papier nicht wiedergeben.
    Sind diese Träume schädlich? O nein. Danach stehe ich gestärkt und munter auf. Ich arbeite gut. Ich habe jetzt sogar Interesse daran, anders als früher. Kein Wunder, alle meine Gedanken waren auf meine ehemalige Frau konzentriert.
    Und jetzt bin ich ruhig.
    Ich bin ruhig.
    19. März
    In der Nacht hatte ich Streit mit Anna K.
    »Ich werde dir keine Lösung mehr machen.«
    Ich redete ihr zu:
    »Unsinn, Annalein. Bin ich etwa ein kleines Kind?«
    »Ich mach’s nicht mehr. Sie richten sich zugrunde.«
    »Nun, wie Sie wollen. Verstehen Sie doch, ich habe Schmerzen in der Brust.«
    »Lassen Sie sich behandeln.«
    »Wo?«
    »Fahren Sie in Urlaub. Morphium ist keine Behandlung.« Dann dachte sie nach und fügte hinzu: »Ich kann es mir nicht verzeihen, daß ich Ihnen damals ein zweites Fläschchen zurechtgemacht habe.«
    »Was denn, bin ich vielleicht ein Morphinist?«

    »Sie sind auf dem besten Wege, einer zu werden.«
    »Sie tun es also nicht?«
    »Nein.«
    Da entdeckte ich zum erstenmal in mir die unangenehme Eigenschaft, böse zu werden, ja jemanden anzuschreien, wenn ich im Unrecht war.
    Im übrigen kam das nicht sofort. Ich ging ins Schlafzimmer. Sah nach. Im Fläschchen plätscherte es noch ein wenig. Ich zog die Spritze auf, sie füllte sich nur zu einem Viertel. Ich warf sie zu Boden und begann zu zittern. Sorgsam hob ich sie auf, untersuchte sie, kein Sprung. An die zwanzig Minuten blieb ich im Schlafzimmer sitzen. Dann schaute ich hinaus, sie war nicht mehr da.
    Weggegangen.
     
    Man stelle sich vor, ich hielt es nicht aus und ging zu ihr. Klopfte an ihr erleuchtetes Fenster im Seitenflügel. Sie kam heraus auf die Vortreppe, in ihr Tuch gewickelt. Still, ganz still war die Nacht. Der Schnee flaumig locker. Irgendwo tief im Himmel roch es nach Frühling.
    »Anna Kirillowna, geben Sie mir bitte die Apothekenschlüssel.«
    Sie flüsterte: »Die gebe ich Ihnen nicht.«
    »Genossin, geben Sie mir bitte die Schlüssel. Ich spreche als Arzt zu Ihnen.«
    Im Dämmerlicht sah ich ihr Gesicht erbleichen, und ihre Augen sanken ein, wurden tief und schwarz. Die Stimme, mit der sie antwortete, rief in meiner Seele Mitleid wach. Doch dann übermannte mich wieder der Zorn.
    Sie: »Warum sprechen Sie so? Ach, Sergej Wassiljewitsch, Sie tun mir leid.«
    Ihre Hände kamen mit den Schlüsseln unter dem Tuch hervor. Sie hatte sie schon mitgebracht.
    Ich (grob): »Geben Sie her!«
    Ich riß ihr die Schlüssel aus der Hand. Ging über den morschen, wippenden Bretterweg
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