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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten
Autoren: Michail Bulgakow
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Besonders an den Moskauer Bahnhof im November nach meiner Flucht aus der Klinik. Entsetzlicher Abend. In der Toilette injiziere ich mir das gestohlene Morphium … Qualvoll. An der Tür hämmert es, Stimmen brüllen wie
aus Eisen, fluchen, weil ich so lange brauche, die Hände flattern, der Riegel wackelt, gleich springt die Tür auf …
    Seitdem habe ich die Furunkel.
    Ich habe in der Nacht geweint, als ich daran dachte.
    12. Nachts.
    Wieder geweint. Was soll diese Schwäche und die Scheußlichkeit in der Nacht.
    1918. 13. Februar, Morgengrauen in Gorelowo.
    Ich kann mir gratulieren: Seit vierzehn Stunden keine Spritze! Vierzehn! Unvorstellbare Zahl. Trüb und grauweiß wird es Tag. Jetzt werde ich ganz gesund.
    Bei reiflicher Überlegung: Ich brauche weder Bomhart noch sonstwen. Es wäre schmählich, mein Leben auch nur um eine Minute zu verlängern. Ein solches Leben, nein, das darf ich nicht. Ich habe das Medikament zur Hand. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen?
    Nun denn, ans Werk. Ich bin niemandem etwas schuldig. Nur mich habe ich zugrunde gerichtet. Und Anna. Was kann ich tun?
    Heilen auch wird’s die Zeit, so sang Amner. Bei ihr ist das natürlich einfach.
    Mein Heft bekommt Bomhart. Schluß …
     
    5 Im Morgengrauen des 14. Februar 1918 las ich in einem entlegenen Städtchen diese Aufzeichnungen von Sergej Poljakow. Ich habe sie hier vollständig vorgelegt, ohne die kleinste Änderung. Ich bin kein Psychiater und kann nicht mit Sicherheit sagen, ob sie lehrreich, ob sie notwendig sind.
    Ich finde, sie sind es.
    Jetzt, zehn Jahre später, empfinde ich selbstverständlich nicht mehr soviel Schrecken und Mitleid wie damals. Das ist natürlich, aber nachdem ich heute, wo Poljakows Körper längst vermodert und die Erinnerung an ihn erloschen ist, die Aufzeichnungen nochmals gelesen habe, fand ich sie doch wieder interessant. Vielleicht sind sie notwendig? Ich bin mutig genug, diese Frage positiv zu beantworten.
Anna K. starb 1922 an Flecktyphus in demselben Revier, wo sie gearbeitet hatte. Amneris, Poljakows erste Frau, ist im Ausland und kehrt nicht zurück.
    Darf ich die mir geschenkten Aufzeichnungen veröffentlichen? Ich darf. Ich veröffentliche sie.
    Doktor Bomhart
     
    Herbst 1927

Abschrift
     
    Kreissemstwoamt Sytschowka
18. September 1918
Nr.
Sytschowka
     
     
    ZEUGNIS
     
    Mit dem vorliegenden Zeugnis wird dem Arzt Michail Afanassjewitsch Bulgakow bescheinigt, daß er vom 29. September 1916 bis zum 18. September des laufenden Jahres 1917 als Angestellter des Semstwos Sytschowka leitender Arzt im Semstwokrankenhaus von Nikolskaja war und sich in dieser Zeit als energischer und unermüdlicher Mitarbeiter in der Semstwotätigkeit bewährt hat.
    Nach den Informationen des Semstwoamtes hat er in der genannten Zeit im Arztvier von Nikolskaja 211 Personen stationär und 15 361 Personen ambulant behandelt.
    In der Zeit seiner Tätigkeit im Semstwokrankenhaus von Nikolskaja hat der Arzt M.A. Bulgakow folgende Operationen ausgeführt: 1 Oberschenkelamputation, 3 Zehenamputationen, 18 Gebärmutterausschabungen, 4 Vorhautbeschneidungen, 2 Zangengeburten, 3 Wendungen auf den Fuß, 1 manuelle Plazentalösung, 2 Atherom- und Lipomentfernungen, 1 Luftröhrenschnitt; überdies führte er aus: Wundvernähungen, Öffnung von Abszessen und vereiterten Atheromen, 2 Abdominalpunktionen, Reluxationen von Verrenkungen; einmal entfernte er mit Chloroformnarkose Rippensplitter nach einer Schußverletzung.
    Beglaubigte Unterschriften:
Vorsitzender des Semstwoamtes
 (Fjodor Stroganow)
Sekretär (W. Ball)
     
    Siegel des Kreissemstwoamtes

Die Übersetzung stützt sich auf folgende Originalausgabe:
M. Bulgakov, Sobranije sočinenij v pjati tomach Bd. 1, 2,
Vlg. »Chudožestvennaja literatura«, Moskau 1989/90.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    1. Auflage November 2009
Sammlung Luchterhand
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1993 by Volk und Welt
    in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
    eISBN 978-3-641-02992-0
     
     
     
    www.luchterhand-literaturverlag.de
    www.randomhouse.de
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