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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten
Autoren: Michail Bulgakow
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mehr praktizieren, mein Lieber, und es ist vielleicht verbrecherisch, Ihre Dienststelle nicht zu informieren.«
    Ich zuckte zusammen und spürte deutlich, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich (obwohl ich ohnedies kaum Farbe habe).
    »Ich flehe Sie an, Professor«, sagte ich dumpf, »sagen Sie es niemandem. Dann würde ich entlassen, als Kranker verschrien. Warum wollen Sie mir das antun?«
    »Gehen Sie«, rief er ärgerlich, »gehen Sie. Ich werde nichts sagen. Man bringt Sie ja doch hierher zurück.«
    Ich ging, und ich schwöre, ich habe den ganzen Weg vor Scham und Schmerz gezittert. Warum?
    Ganz einfach. Ach, mein Freund, mein treues Tagebuch. Du wirst mich doch nicht verraten? Ich habe in der Klinik Morphium gestohlen. Drei Kubikzentimeter Kristalle und zehn Gramm einprozentige Lösung.

    Dies ist das eine, aber noch etwas anderes ist wichtig. Der Schlüssel steckte im Schrank. Und wenn er nicht gesteckt hätte? Hätte ich den Schrank aufgebrochen oder nicht? Na? Ehrlich?
    Ich hätte ihn aufgebrochen.
    Doktor Poljakow ist also ein Dieb. Ich komme schon noch dazu, diese Seite herauszureißen.
    Na, was das Praktizieren betrifft, so hat er doch zu dick aufgetragen. Ja, ich bin degeneriert. Sehr richtig. Der Zerfall meiner moralischen Persönlichkeit hat begonnen. Aber arbeiten kann ich, ich füge keinem meiner Patienten Böses oder Schaden zu.
     
    Ja, warum habe ich gestohlen? Ganz einfach. Ich war überzeugt, während der Kämpfe und der ganzen Wirren im Zusammenhang mit dem Umsturz nirgendwo Morphium zu bekommen. Als es aber stiller geworden war, erhielt ich in einer Apotheke am Stadtrand fünfzehn Gramm einprozentige Lösung, für mich ziemlich nutzlos und zermürbend (davon brauche ich neun Spritzen). Und obendrein mußte ich mich noch erniedrigen. Der Apotheker verlangte einen Stempel und musterte mich mürrisch und argwöhnisch. Dafür bekam ich am nächsten Tag, als ich wieder meine Norm hatte, in einer anderen Apotheke ohne Schwierigkeiten zwanzig Gramm in Kristallen; ich hatte ein Rezept fürs Krankenhaus ausgefertigt (natürlich hatte ich Coffein und Aspirin dazugeschrieben). Ja, warum soll ich eigentlich Versteck spielen und mich fürchten? Wirklich, als ob auf meiner Stirn geschrieben stünde, daß ich Morphinist bin. Wen geht das schließlich was an!
     
    Ist der Verfall so groß? Ich rufe diese Aufzeichnungen zum Zeugen an. Sie sind bruchstückartig, doch ich bin ja auch kein Schriftsteller! Sind etwa verrückte Gedanken darin? Ich glaube, ganz nüchtern zu urteilen.

    Ein Morphinist besitzt ein Glück, das ihm niemand nehmen kann – die Fähigkeit, sein Leben in gänzlicher Einsamkeit zu verbringen. Einsamkeit, das sind wichtige, bedeutsame Gedanken, das ist Betrachtung, Ruhe, Weisheit …
    Die Nacht strömt dahin, schwarz und schweigsam. Irgendwo liegt der kahle Wald, dahinter ein Flüßchen, Kälte, Herbst. Fern, ganz fern ist das umgewühlte, stürmische Moskau. Mich geht das nichts an, ich brauche nichts, mich zieht es nirgendwo hin.
    Brenne in meiner Lampe, Flämmchen, brenne leise, ich möchte ausruhen von den Moskauer Abenteuern, ich möchte sie vergessen.
    Und ich habe sie vergessen.
     
    Ich habe vergessen.
    18. November
    Morgenfrost. Trockenes Wetter. Ich ging den Pfad entlang zum Fluß, denn ich atme fast niemals frische Luft.
    Zerfall der Persönlichkeit – mag sein, doch ich unternehme noch immer Versuche zur Abstinenz. Heute morgen zum Beispiel habe ich nicht gespritzt (sonst spritze ich jetzt dreimal täglich je drei Spritzen mit vierprozentiger Lösung). Das ist mir peinlich. Anna tut mir leid. Jedes neue Prozent tötet sie. Sie tut mir leid. Ach, was ist sie für ein Mensch!
    Ja … so … nun … als es mir schlecht ging, beschloß ich, die Qual auf mich zu nehmen (Professor N. hätte seine Freude an mir gehabt) und die Spritze zurückzuziehen, dann ging ich zum Fluß.
    Welche Einöde. Kein Rascheln, kein Laut. Die Dämmerung ist noch nicht da, aber sie lauert schon irgendwo und schleicht heran durch die Sümpfe, über die Bülten, zwischen den Baumstümpfen … Immer näher kommt sie dem Krankenhaus Lewkowo … Auch ich schleiche, gestützt auf meinen Stock (ehrlich gesagt, ich bin in letzter Zeit recht schwach geworden). Mit eins sah ich, wie vom
Fluß, die Steigung herauf, ohne die Beine unter dem bunten Glockenrock zu bewegen, ein altes Weiblein mit gelben Haaren auf mich zugeeilt kam. Im ersten Moment begriff ich nicht und erschrak nicht einmal. Ein altes Weiblein
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