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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Autoren: Wolfgang Detel
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unsere Wissensansprüche möglichst gut begründen und eventuelle Fehler möglichst schnell entdecken können. Wir können den Bereich dieser methodisch geregelten epistemischen Praxis
Wissenskultur
nennen. Und dann können wir unsere letzten Überlegungen so zusammenfassen, dass Aristoteles explizit zwischen Wissensideal und Wissenskultur unterschieden hat.
    Eine der verblüffendsten Entwicklungen der Aristoteles-Rezeption seit dem Mittelalter ist die axiomatische Lesart seiner Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Dieser verbreiteten Lesart zufolge soll Aristoteles behauptet haben, dass wir uns der Wahrheit der obersten Prinzipien einer Wissenschaft durch das spezifische Vermögen der Einsicht unmittelbar und endgültig versichern und dann alle Theoreme aus den obersten Prinzipien deduktiv ableiten können – so dass sich auf diese Weise auch die Wahrheit aller Theoreme endgültig [34] sichern lässt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Lesart falsch ist. Ihr Fehler besteht darin, nicht zwischen Wissensideal und Wissenskultur bei Aristoteles zu unterscheiden und Bemerkungen über das Wissensideal als Aussagen über unsere epistemische Situation im Rahmen der Wissenskultur misszuverstehen. Bereits Aristoteles war im weitesten Sinne wissenschaftstheoretischer Fallibilist. Und auch die moderate fallibilistische Einstellung in der Wissenschaftstheorie zählte er zur Bildung – die Wissenschaftstheorie ist so wenig wie Topik oder Logik eine spezielle Wissenschaft. Wir können Aristoteles selbst kaum dafür verantwortlich machen, dass er viele Jahrhunderte lang – vermutlich unter dem Einfluss des christlichen Denkens – fälschlicherweise als epistemologischer Dogmatiker begriffen worden ist. Mit seiner innovativen moderaten Epistemologie und Wissenschaftstheorie hat er entgegen dieser Deutung vielmehr die sokratische Proklamation des Wissens unseres Nichtwissens mitsamt ihrer argumentativen Technik im logischen Raum der Gründe (und damit im Raum der Bildung) auf theoretisch brillante und nachhaltige Weise umgesetzt.

[35]
Physik, Theologie und Biologie
    In seiner wissenschaftlichen Analytik übernimmt Aristoteles, wie wir gesehen haben, Platons Ansicht, dass die Wissenschaften sich primär mit allgemeinen und unveränderlichen Strukturen beschäftigen. Platon hat außerdem betont, dass der Kosmos, und in diesem Sinne die Natur, bewegt und veränderlich, aber auch regelhaft und schön ist – eine gute Mischung aus Ordnung und Vielfalt. Damit hat er sich vor allem gegen die Auffassung der Atomisten gewandt, dass die Veränderungen der Naturdinge regellos und zufällig seien. Unzufrieden war Platon auch mit den Antworten der vorsokratischen Philosophie auf die Frage nach dem Ursprung der Bewegung und Veränderlichkeit der Naturdinge. Der Kern der platonischen Naturvorstellung lässt sich aus dieser Problematik entwickeln. Die Regelhaftigkeit und schöne Struktur des Kosmos kann man am besten anhand des Technikmodells erläutern: Die regelhafte Natur ist Produkt einer vernünftigen Planung, deren Urheber metaphorisch als demiurgischer Gott eingeführt wird. Genauer wird der Kosmos durch eine Weltseele regiert, die das ordnende Funktionsprinzip der Natur ist. An dieser Stelle greift Platon auf einen alten Seelenbegriff zurück, den Begriff der Seele als Prinzip der Selbstbewegung, die zugleich anderes bewegen kann. Damit ist in Umrissen die Antwort nach dem Ursprung der Bewegung im Kosmos geliefert.
    Aristoteles knüpft in seiner Naturphilosophie 8 an einige dieser Überlegungen an, allerdings aus einer anderen theoretischen Perspektive. Zu dieser neuen Perspektive gehört die Einzelding-Ontologie seiner frühen Metaphysik; außerdem verzichtet er auf das Konzept der Seele als Prinzip der Selbstbewegung (für Aristoteles ist die Seele vielmehr, wie wir später genauer sehen werden, das Prinzip des Lebens). Daher [36] überträgt er – das ist sein erster naturphilosophischer Schachzug – Platons Prinzip der Selbstbewegung auf die einzelnen Naturdinge: Natur
(physis)
als wichtiges Element des Universums ist im elementarsten Sinne der Bereich der Dinge und Ereignisse, die von selbst geschehen, und nicht wie in der Moderne der Bereich der Dinge und Ereignisse, die naturgesetzlich organisiert und reguliert sind. Naturdinge sind – im Gegensatz zu mathematischen Entitäten und Artefakten – entsprechend jene Dinge, die das Prinzip der Bewegung und Ruhe in sich haben; das gilt sowohl von lebenden Wesen aller Art als
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