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Aprilwetter

Aprilwetter

Titel: Aprilwetter
Autoren: Thommie Bayer
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Ende des vierten Stücks – mit den ersten Tönen von Zirkelschluss fühlte er sich zurückversetzt ins Studio, sah Christine hinter der Glaswand der Regie auftauchen, sah sich und Daniel, die das Stück in einem Take auf Band bekamen, fühlte die Energie, das Glück, den gemeinsamen Höhenflug, und von da an stürzte er immer tiefer in ein Elend, wie er es bis dahin nicht gekannt hatte: Er vermisste Daniel. Er vermisste ihn so sehr, dass es wehtat. Im Bauch, in den Gliedern, im Kopf, er vermisste sich selbst, den Benno, der er nur mit Daniel zusammen gewesen war, den Zwilling, der sich am richtigen Platz wusste in einem gemeinsamen Talent, in einer gemeinsamen Größe und in einer Art von Heimat oder Sicherheit, die es nur für sie beide zusammen gab, nur für Zwillinge, nur für die Hälften eines Ganzen, dessen Kraft weit über das hinausging, was man als Summe ihrer beider Fähigkeiten hätte ausmachen können.
    Er sah auf einmal, dass er seine Zeit im falschen Leben vertat, dass er sich verraten hatte, indem er Daniel verraten hatte, sich selbst verlassen hatte, vor seiner eigenen Notwendigkeit, seiner Aufgabe, seiner eigenen Wahrheit geflohen war – er hatte nicht nur Daniel bestohlen, er hatte sich selbst bestohlen, nur weil er zu feige gewesen war, sich einzugestehen, dass entweder Daniel oder Christine oder er selbst irgendeine Art von Zurückweisung würden aushalten müssen. So hatte er dafür gesorgt, dass sie alle zurückgewiesen waren, alleingelassen, hatte dieses Potential zerstört, hatte Tanner & Krantz zerstört und sich selbst zum Mucker gemacht, der für Drinks und Lebensmittel den immergleichen Sermon spielte.
    Als er begriff, dass man ihm seine Gefühle ansehen musste, legte er den Kopf in die Arme und hoffte, dass sein Heimwehanfall noch niemandem aufgefallen wäre. Bis das Album zu Ende war, hielt er durch und schaffte es sogar, die Tränen zu verbergen, die auf die Tischplatte getropft waren. Er fuhr mit dem Ärmel drüber und sprach als Erster ins Schweigen der anderen hinein. »Gute Musik«, sagte er auf Deutsch, und alle sprachen ihm nach »Goute Mousiek«.
    Janet sah ihn an. Er lächelte, aber er wusste, dass sie seinen Absturz mitbekommen hatte. Sie zuckte ein ganz klein wenig die Schultern und zog ihre Mundwinkel nach innen, er schüttelte den Kopf und bedeutete ihr damit, sie solle sich keine Sorgen machen.
    Dann stand er Rede und Antwort, erzählte von seinem früheren Leben, von Daniel, von den Touren, von zwei Auftritten in San Francisco und Los Angeles fürs Goethe-Institut, erklärte den Trick mit den Oktavsaiten bei Zirkelschluss , den Tyler herausgehört hatte, und er hätte sich gesonnt im Lob und in der Aufmerksamkeit aller, wenn ihn nicht dieses Heimweh nach Daniel von innen zerfressen hätte.
    —
    Ob es nur daran lag, dass er viel zu schnell zu viel Wein in sich hineingeschüttet hatte, am Heimweh, an dem vagen Gefühl, bestohlen worden zu sein um seine Musik, sein Geheimnis, seine Vergangenheit, die er hier nicht hatte ausbreiten wollen und die jetzt aus lauter Liebe und Freundlichkeit von Janet hervorgezerrt worden war, oder daran, dass er sich auf einmal wie ein Täter auf der Polizeiwache mit seiner damaligen Flucht konfrontiert sah – er konnte es niemandem, auch sich selbst nicht, erklären, dass er am liebsten das Haus angezündet hätte oder eines der Autos bestiegen, um so lange damit nach Osten oder Westen zu fahren, bis das Meer zu sehen wäre. Stattdessen umarmte er Janet und versuchte, ihr das Gefühl zu geben, er freue sich über ihr Geschenk.
    Irgendwann später, als er ins Bad wollte, kam ihm Phoebe aus der Tür entgegen und sagte irgendetwas, vermutlich war es ein Lob für die Musik, er hörte es nicht oder verstand es nicht, er griff einfach nach ihrer Hüfte und zog sie an sich, mit sich ins Bad zurück, schob ihr den Rock nach oben und den Slip nach unten, registrierte nur am Rande ihre erstaunten, zustimmenden Kiekser, drehte sie um, öffnete seine Hose und drängte sich ohne Umstände in sie. Mit dem Fuß stieß er die Tür hinter sich zu, und mit einer abenteuerlichen Verrenkung seines Oberkörpers schaffte er es, den Schlüssel umzudrehen.
    Phoebe beugte sich vor und stützte sich am Waschbecken ab, gab unterdrückte, winzige Laute von sich, und Benno sah im Spiegel einen Mann, der nicht er sein konnte, der sich einer Frau bemächtigt hatte, die ihn nicht interessierte, der wusste, dass er sich abscheulich benahm, einen Chef, der sich mal eben die
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