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Aprilwetter

Aprilwetter

Titel: Aprilwetter
Autoren: Thommie Bayer
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sich in seinen Möglichkeiten täuscht.
    Danach kam eine junge Frau auf die Bühne, ein unscheinbares Mädchen mit Mausaugen und Kurzhaarschnitt, und bat die Band, Red Dirt Girl von Emmylou Harris in E-Dur zu spielen. Und sie brauchte nur ein paar Takte, bis sogar der Barkeeper sein Geschirrtuch über die Schulter warf, sich mit beiden Händen an der Theke abstützte, jedes Geräusch vermied und zuhörte. Die Kneipe war zum Konzertsaal geworden, das Publikum gefesselt, und Benno wusste für einen Augenblick wieder, wozu er auf der Welt war.
    Er konnte, wenn er wollte, die Sänger so unterstützen, dass sie über sich hinauswuchsen. Wenn ihm danach war, wenn der Musikant in ihm erwachte, verabreichte er dem Nobody vor sich eine Selbstvertrauensinfusion, dass der sich fühlte, als schwebe er über allem und träume den schönsten ersehnlichen Traum: vom Einssein des Sängers mit dem Publikum, der Band, der Musik, dem Augenblick. Benno spielte dann so, dass er einerseits die Stellen ausfüllte, an denen der Sänger im rhythmischen Netz allein bliebe, und andererseits so, dass er zweite und dritte Stimmen zu hören glaubte, wo er fürchten konnte, dünn zu klingen.
    Nick, der Pedal-Steel-Player, stieg immer mit ein, wenn Benno auf Qualitätsmusik umschaltete, und Tyler, Dave, Warren und Stephen grinsten vor sich hin, gaben Bass, Drums, Acoustic und Fiddle dieses Milligramm mehr Druck und Seele, mit dem man den Dienst nach Vorschrift hinter sich lässt und spielt, als käme es drauf an. So machten sie gelegentlich aus mittelmäßigen gute Sänger und aus guten Sängern Stars. Wenn auch nur für diesen Abend. Draußen in der richtigen Welt kam es dann wieder auf mehr und anderes an, als sie dazu tun konnten.
    Für dieses Mädchen machten sie die Schachtel auf. Sie gaben ihr alles, was sie brauchte, um sich ganz vom Gefühl in diesem Song tragen zu lassen. Bei der Zeile »I was standing there with her when the telegram come – For Lillian« weinte sie, aber ohne dass ihre Stimme brach. Ihr liefen nur zwei, drei Tränen übers Gesicht. Und sie war glücklich in diesem Moment.
    Der letzte Akkord verklang. Das Mädchen stand mit gesenktem Kopf, die Hand ums Mikrofon gelegt, und war in sich selbst, den Raum, den Moment und die Erinnerung an das eben Gesungene versunken. Benno lauschte dieser speziellen Stille, die sich erst nach Sekunden in frenetischem Applaus mit Trampeln und Johlen auflösen würde, dem Lärm, der die Geister der Ergriffenheit verscheuchen sollte.
    Aber jemand hatte eine bessere Idee: Ein lautes Furz geräusch, wie es entsteht, wenn man den Handrücken an den Mund legt und bläst, zerstörte alles, was der Moment enthielt, das Mädchen erschrak, wurde rot vor Scham, und ihr Blick suchte den Raum nach Fluchtwegen ab. Die Köpfe drehten sich nach dem Störenfried um – es war Pseudogarth, der es nicht ertrug, seine eigene Niederlage durch den Triumph dieses Mädchens ins Groteske gesteigert zu sehen. Er hob sein Bierglas, prostete den empörten und verachtungsvollen Blicken zu und schien zufrieden, sich für den Augenblick als Provokateur neu erfunden zu haben.
    Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden, und länger brauchte Benno nicht, um den Gitarrengurt zu lösen, seine Strat an den Verstärker zu lehnen und von der Bühne zu hechten, um das Furzgesicht brachialkosmetisch zu behandeln – dieser Ausdruck überheblicher Genugtuung verlangte eine Korrektur. Er stieß zwei Stühle um, sah, wie der Kerl begriff, dass ihm das, was da auf ihn zuschoss, schlecht bekommen würde, aufsprang und zum Ausgang flüchtete – Benno setzte ihm nach, blind und taub vor Zorn, er wollte den Kerl bluten sehen. Da stellte sich ihm jemand in den Weg: Daniel.
    Erst jetzt kam zögerlicher Applaus auf, vereinzelt und schüchtern, jeder schämte sich für diese miese Einlage, man wollte die Sängerin trösten und die peinliche Fast-Schlägerei vergessen machen und hatte nichts anderes parat, als lahmes Klatschen und verlegene Bravorufe. Inzwischen saß die junge Frau am Bühnenrand und weinte.
    »Was machst du denn hier?«, sagte Benno und ließ Daniel stehen, ging zur Bühne zurück, setzte sich neben die Weinende, legte seinen Arm um sie und versprach ihr, der Tag sei nicht mehr fern, an dem Leute wie dieser Niemand vor ihr im Staub lägen. Dann solle sie kräftig zutreten. Ihre Tränen machten ihn ratlos, und er hätte alles getan, damit sie versiegten, aber die Frau schluchzte lauter, und ihm blieb nichts, als sie an
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