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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe
Autoren: Michael Tietz
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später noch kümmern, sich nachher, mit Timi im Arm, über sie wundern.
    Max setzte den rechten Fuß nach vorn, vollführte eine Vierteldrehung und zog den linken nach, der aber blieb an seinem Kameraden hängen, Max wollte sich noch an der Wand abstützen, rutschte ab und stolperte in den vorderen Raum. Sein Koordinationsvermögen brachte vier Schritte zustande. Max schwankte, jedes Steinchen entpuppte sich als Gegner und von diesen Gegnern hatten sich Tausende vor ihm versammelt. Einem von ihnen, nicht einmal einem besonders stattlichen Exemplar, gelang es, den Tritt des Jungen endgültig aus der Bahn zu werfen: Max, jetzt im Raum, mehr als eine Armlänge von der Wand entfernt, suchte, fand aber nichts, woran er sich hätte abstützen können und schlug nur drei Schritte vor dem Beginn der Halde, auf der Timis Fingerspitzen gerade das wieder herabgelassene Seil erreichten, auf den Boden.
    Timi fuhr herum.
    » Bleib bei mir«, flüsterte Max, »bitte, du darfst mich nicht verlassen. Du bist doch noch immer mein Bruder.« Der kleine Bruder aber wollte nicht länger Bruder sein und wollte nicht länger zuhören und folgen und bleiben. Timi sah Max am Boden liegen. Timi sah weit aufgerissene Augen und eine Hand, die sich nach ihm ausstreckte. Timi sah Max auf allen vieren loskrabbeln, genau in seine Richtung. Schon hatte Max den Fuß der Halde erreicht, rutschte über Steine und Schutt, ohne dabei den Blick von Timi zu nehmen.
    Timi schrie. Er rief nicht Hilfe oder Hau ab oder zieht mich hoch , er schrie einfach nur, als habe ihm jemand den Brustkorb aufgerissen, um den Herzschlag des Jungen zu drosseln und zu beenden. Timi schrie, sprang am Seil, das er sich soeben unter den Armen hindurchziehen wollte, empor und klammerte sich fest. Seine Füße zappelten nur wenige Zentimeter über dem Schutt, doch nur ganz kurz, dann schlugen Timis Knie auf den Boden.
    Alex hatte das Seil mit nur einer Hand gehalten und sich mit der anderen den Schweiß abgewischt, als Timis Schreie aus der Öffnung drangen und ihm das Seil aus der Hand gerissen wurde. Kasi stürzte zur Öffnung und erkannte als Schatten den auf Timi zu kriechenden Max.
    » Schnell! Max ist frei!« Alex packte das Seil. »Halt dich fest, Timi!«
    Kasi hatte den Zustand seiner Hände nicht vergessen und wenn, die erste Berührung hätte ihn daran erinnert. Er wusste, dass es wehtun würde, packte trotzdem zu – die Welt verdunkelte sich einen kurzen Moment, sein Griff aber hielt und das Gewicht des Seiles verriet, dass sie Timi am Haken hatten. Kasis Welt drehte sich, seine Handflächen – gerade an den Stellen, die nun wieder dieses Seil berühren mussten – rohes Fleisch. Dieses Fleisch sprang erneut auf und jeder einzelne Zentimeter Seil, den er zum hinter der Mauer verborgenen Alex weitergab, erzählte dem von Kasis Händen.
    » NEIN!«
    Der geliebte Bruder schwebte davon. Max dachte an Spielfilme, an solche, die in einer hochtechnisierten Zukunft spielten und in denen Menschen in Lichtkegeln verschwanden und in einer anderen, fernen Welt in einem ebensolchen Lichtstrahl zum Vorschein kamen. Die grauen Wände des Trichters und der Schutthaufen auf seinem Grund. Ein schräg hereinfallendes Licht und ein Bruder, der diesem Licht Stück für Stück entgegenschwebte.
    Einsamkeit.
    Kälte.
    Zwei aneinanderklebende Schneeflocken, die in diesem Licht da oben schmolzen und auseinanderfielen. Eine Flocke blieb in einer Schneewehe liegen, die andere stürzte in einen Vulkankrater, schmolz und verdampfte, ehe sie ein Ziel erreichen konnte.
    Nein, wusste Max, alles durften sie ihm wegnehmen, alles, aber nicht Timi. Sie hatten ihm seine Beute von der Decke gerissen und seine Hosen dem Mädchen geschenkt, der Berg hier hatte ihm sein altes Leben genommen und Timis Vater ihm seinen Stolz. Sie alle hatten sich verschworen und ihm Licht und Liebe und Leben genommen, aber Timi würde niemand bekommen! Doch der Anblick des Seiles mit dem Geliebten an seinem Ende erzählte längst gegenteilige Wahrheiten: Tschüss, Max. War schön mit dir, aber jetzt ist es vorbei. Du bleibst bei deinen dummen Spinnen und ich gehe zu Papa .
    Max sah Timi Stück für Stück in die Höhe schweben. Und er sah da oben Timis Vater, versteckt im Gras, und Max wusste, sollte Timi auch nur den Kopf da hinausstecken, würde dieser Vater zupacken, den Kleinen ins nächste Gebüsch stoßen und …
    Plötzlich lebten seine Beine wieder, nicht wie früher, aber sie gehörten wieder zu ihm. Max richtete sich
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