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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe
Autoren: Michael Tietz
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einen Zusammenprall niemals aushalten könnten, spürte den Windstoß des in die Tiefe fallenden Körpers, unmittelbar darauf hörte er einen Aufprall, einen Schrei und wegrutschendes Geröll. Aber er sah nicht nach unten. Max’ Wimmern in den Ohren, klammerte er sich an das Seil, bis er einen Ruck spürte und der Aufzug seine Reise fortsetzte. Alex half ihm aus dem Loch. Als Gras die Sohlen des Jungen streichelte, als Sonnenstrahlen seinem Körper das Zittern nahmen und ihn einhüllten, als er die beiden Türme der Roggenbacher Ruine sah und ganz fern das Plätschern der Steina hörte, da begann sich alles um ihn herum zu drehen. Er schloss die Augen, lauschte dem Rauschen in seinen Ohren und fiel neben Kasi ins Gras.
    Als die Ohnmacht nach wenigen Minuten endete, bot sich einem imaginären Betrachter vom besteigbaren Fingerturm aus das Bild einer seltenen Idylle: Großvater hatte dem Drängen seiner drei Enkelsöhne endlich nachgegeben, einen Rucksack mit Proviant gefüllt und dem Hund die Leine angelegt. Zusammen hatten sie das uralte Gemäuer erkundet und sich hier zu einer kurzen Rast ins Gras gelegt. Großvater erzählte Geschichten, von sich und seinen Freunden und wie sie vor unendlich langer Zeit die Ruine besucht hätten. Er sprach von Rittern und von im Berg verborgenen geheimen Räumen und Schätzen. Und einem Drachen da unten.
    Aber Großvater lebte nicht mehr und die Kinder erblickten gerade erst das Licht der Welt.

Epilog

    Fast zwei Wochen nach der Rettung der Kinder wand sich ein nicht enden wollender Trauerzug von der winzigen Kirche des Dorfes hinauf Richtung Friedhof. Das Wetter meinte es gut mit Gernot Seilers weggeworfener Hülle: die Sonne zwinkerte immer wieder durch die vor dem Himmelblau nach Osten treibenden Wölkchen, die einer Herde Himmelsschafen gleich alles Traurige von diesem Tag fraßen, und im Süden schimmerten die Silhouetten der Schweizer Alpen durch den Dunst. Noch ein paar Stunden und die Hitze des Tages würde dieses Bild verwischen, noch aber standen die schneebedeckten Gipfel in der Ferne Spalier.
    Den Männern, welche Seilers Sarg trugen, lief der Schweiß von der Stirn, doch keiner von ihnen dachte an Aufgeben, ganz im Gegenteil; sie, alles Verwandte der geretteten Kinder, hatten sich um diese Aufgabe gerissen und da nicht mehr als sechs Sargträger Platz fanden, musste der Sarg unterwegs zwei Mal abgesetzt und von neuen Trägern wieder angehoben werden.
    Alles was laufen konnte, lief hinter dem Sarg her zum Friedhof, voran der Pfarrer. Direkt hinter dem Sarg gingen Timi, Kasimir und Alex und hinter den Kindern ganz Wittlekofen, viele Menschen aus den umliegenden Dörfern, ja sogar der Bürgermeister aus Bonndorf, und obwohl keiner von ihnen in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten mehr als einen Gruß mit dem alten Einsiedler gewechselt hatte, wollten sie ihm doch alle an diesem Tag die letzte Ehre erweisen.
    Im Gegensatz zu Rufus’ Leiche hatte der alte Seiler nicht erst umständlich geborgen und obduziert werden müssen – seine Todesursache lag für den untersuchenden Arzt auf der Hand: Herzinfarkt. Die Anstrengung, die Hitze, die Aufregung – das alles fügte sich zu einem stimmigen Bild und bereits zwei Tage nach seinem Auffinden hätte der alte Mann eigentlich unter die Erde gekonnt, die Verantwortlichen warteten aber, bis Kasi und Timi soweit wiederhergestellt waren, dass sie, ohne Folgen für ihre Gesundheit befürchten zu müssen, an der Beerdigung teilnehmen konnten, denn das wollten sie unbedingt.
    Alex hatte sich erstaunlich schnell erholt, schon drei Tage nach seiner Wiedergeburt konnte er das Krankenhaus verlassen und saß am Folgetag bereits auf seinem neuen Fahrrad. Neben ihm fuhr Leni, noch mit Stützrädern, dafür aber zum ersten Mal schneller als ihr großer Bruder und mit ihrem ganzen Stolz um den Hals: einer ihr von Alex aus dem Berg mitgebrachten Speerspitze. Leni hatte sie gereinigt und ihr Vater ihr ein Loch in den Schatz gebohrt und ein Lederband hindurchgezogen und jetzt ging dieser Vater, Leni an der Hand, hinter seinem Sohn her und empfand Stolz auf diesen Sohn. Immer wieder hatte er in den zurückliegenden Tagen Glückwünsche und Schulterklopfen in Empfang nehmen dürfen; ohne Alex, so der einhellige Tenor, gäbe es keines dieser Kinder hier mehr, Alex hatte sie gerettet – und der alte Seiler.
    » Das hätte Rufus gefallen«, flüsterte Kasi.
    » Was?«, fragte Alex. Kasi zeigte auf seinen Anzug. Wie die ganze Trauergemeinde
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