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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns
Autoren: Heinrich Böll
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dicke Scheibe Schinken abschnitt und sie unten aß, stehend, mit den Fingern, hastig, es sah nicht einmal widerwärtig aus, nur überraschend, und ich war eher gerührt als entsetzt. Ich war in den Keller gegangen, um in der Kofferkammer nach alten Tennisbällen zu suchen, verbotenerweise, und als ich ihre Schritte hörte, knipste ich das Licht aus, ich sah, wie sie ein Glas eingemachtes Apfelmus aus dem Regal nahm, das Glas noch einmal absetzte, sah nur die
    Schneidebewegung ihrer Ellenbogen, und dann stopfte sie sich die zusammengerollte Scheibe Schinken in den Mund. Ich habs nie erzählt und werde es nie erzählen. Unter einer Marmorplatte in der Schniergruft wird mein Geheimnis ruhen. Merkwürdigerweise mag ich die, von deren Art ich bin: die Menschen.
    Wenn einer von meiner Art stirbt, bin ich traurig. Sogar am Grab meiner Mutter würde ich weinen. Am Grab des alten Derkum konnte ich mich gar nicht fassen; ich schaufelte immer mehr und mehr Erde auf das nackte Holz des Sarges und hörte
    hinter mir jemanden flüstern, das sei ungehörig - aber ich schaufelte weiter, bis Marie mir die Schuppe aus der Hand nahm. Ich wollte nichts mehr sehen von dem Laden, dem Haus, wollte auch kein Andenken an ihn haben. Nichts. Marie war nüchtern, sie verkaufte den Laden und tat das Geld weg »für unsere Kinder«.
    Ich konnte schon, ohne zu humpeln, in die Diele gehen, meine Guitarre holen. Ich knöpfte die Hülle ab, schob im Wohnzimmer zwei Sessel gegeneinander, zog das
    Telefon zu mir hin, legte mich wieder und stimmte die Guitarre. Die wenigen Töne taten mir wohl. Als ich anfing zu singen, fühl-239
    te ich mich fast wohl: mater amabilis - mater admirabilis — das orapro nobis intonierte ich auf der Guitarre. Die Sache gefiel mir. Mit der Guitarre in der Hand, den offenen Hut neben mir, mit meinem wahren Gesicht würde ich auf den Zug aus Rom warten. Mater boni consilii. Marie hatte mir doch gesagt, als ich mit dem Geld von Edgar Wieneken kam, daß wir uns nie, nie mehr trennen würden: »Bis daß der Tod uns scheidet.« Ich war noch nicht tot. Frau Wieneken sagte immer: »Wer singt, lebt noch« und: »Wems schmeckt, der ist noch nicht verloren.« Ich sang und hatte
    Hunger. Am wenigsten konnte ich mir Marie seßhaft vorstellen: wir waren miteinander von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel gezogen, und wenn wir irgendwo ein paar Tage blieben, sagte sie immer: »Die offenen Koffer starren mich an wie Mäuler, die gestopft werden wollen«, und wir stopften den Koffern die Mäuler, und wenn ich wo ein paar Wochen bleiben mußte, lief sie durch die Städte wie durch ausgegrabene Städte. Kinos, Kirchen, unseriöse Zeitungen, Mensch-ärgere-dich-nicht. Wollte sie wirklich an dem großen feierlichen Hochamt teilnehmen, wenn Züpfner zum
    Malteserritter geschlagen wurde, zwischen Kanzlern und Präsidenten, zu Hause mit eigener Hand die Wachsflecken aus dem Ordenshabit bügeln? Geschmackssache,
    Marie, aber nicht dein Geschmack. Es ist besser, auf einen ungläubigen Clown zu vertrauen, der dich früh genug weckt, damit du pünktlich zur Messe kommst, der dir notfalls ein Taxi zur Kirche spendiert. Mein blaues Trikot brauchst du nie zu
    waschen.
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    Als das Telefon klingelte, war ich einige Augenblicke verwirrt. Ich hatte mich ganz darauf konzentriert, die Wohnungsklingel nicht zu überhören und Leo die Tür zu öffnen. Ich legte die Guitarre aus der Hand, starrte auf den klingelnden Apparat, nahm den Hörer auf und sagte: »Hallo«.
    »Hans?« sagte Leo.
    »Ja«, sagte ich, »schön, daß du kommst.« Er schwieg, hüstelte, ich hatte seine Stimme nicht sofort erkannt. Er sagte: »Ich habe das Geld für dich.« Das Geld klang seltsam. Leo hat überhaupt seltsame Vorstellungen von Geld. Er ist fast vollkommen bedürfnislos, raucht nicht, trinkt nicht, liest keine Abendzeitungen und geht nur ins Kino, wenn mindestens fünf Personen, denen er vollkommen vertraut, ihm den Film als sehenswert empfohlen haben; das geschieht alle zwei-drei Jahre. Er geht lieber zu Fuß als mit der Bahn zu fahren. Als er das Geld sagte, sank meine Stimmung sofort wieder. Wenn er gesagt hätte, etwas Geld, so hätte ich gewußt, daß es zwei bis drei Mark wären. Ich schluckte an meiner Angst und fragte heiser: »Wieviel?« - »Oh«, sagte er, »sechs Mark und siebzig Pfennige.« Das war für ihn eine Menge, ich glaube, für das, was man persönliche Bedürfnisse nennt, langte das für ihn auf zwei Jahre: hin und wieder eine Bahnsteigkarte, eine
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