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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns
Autoren: Heinrich Böll
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Manchesterhose, die ich nie getragen hatte, ein schwarzer
    Tweedrock, ein paar Krawatten, und drei Paar Schuhe standen unten auf dem
    Schuhbrett; in den kleinen Schubladen würde ich alles finden, alles:
    Manschettenknöpfe und die weißen Stäbchen für die Hemdkragen, Socken und
    Taschentücher. Ich hätte es mir denken können: wenn es um Besitz
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    geht, werden Christen unerbittlich, gerecht. Ich brauchte die Schubladen gar nicht zu öffnen: was mir gehörte, würde alles da sein, was ihr gehörte, alles weg. Wie
    barmherzig wäre es gewesen, auch meine Klamotten mitzunehmen, aber hier in
    unserem Kleiderschrank war es ganz gerecht zugegangen, auf eine tödliche Weise korrekt. Sicher hatte Marie auch Mitleid empfunden, als sie alles, was mich an sie erinnern, würde, wegnahm, und bestimmt hatte sie geweint, jene Tränen, die Frauen in Ehescheidungsfilmen weinen, wenn sie sagen: »Die Zeit mit dir werde ich nie vergessen.«
    Der aufgeräumte, saubere Schrank (irgend jemand war sogar mit dem Staublappen
    drüber gegangen) war das Schlimmste, was sie mir hinterlassen konnte, ordentlich, getrennt, ihre Sachen von meinen geschieden. Es sah im Schrank aus wie nach einer erfolgreichen Operation. Nichts mehr von ihr, nicht einmal ein abgesprungener
    Blusenknopf. Ich ließ die Tür offen, um dem Spiegel zu entgehen, humpelte in die Küche zurück, steckte mir die Flasche Kognak in die Rocktasche, ging ins
    Wohnzimmer und legte mich auf die Couch und zog mein Hosenbein hoch. Das
    Knie war stark geschwollen, aber der Schmerz ließ nach, sobald ich lag. Es waren noch vier Zigaretten in der Schachtel, ich steckte eine davon an.
    Ich überlegte, was schlimmer gewesen wäre: wenn Marie ihre Kleider hier gelassen hätte, oder so: alles ausgeräumt und sauber und nicht einmal irgendwo ein Zettel:
    »Die Zeit mit dir werde ich nie vergessen.« Vielleicht war es so besser, und doch hätte sie wenigstens einen abgesprungenen Knopf liegen oder einen Gürtel hängen lassen können, oder den ganzen Schrank mitnehmen und verbrennen sollen.
    Als die Nachricht von Henriettes Tod kam, wurde bei uns zu Hause gerade der
    Tisch gedeckt, Anna hatte Henriettes Serviette, die ihr noch nicht waschreif zu sein schien, in dem gelben Serviettenring auf der Anrichte gelassen, und wir alle blickten auf die Serviette, es war etwas Marmelade dran und
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    ein kleiner brauner Flecken von Suppe oder Soße. Ich spürte zum erstenmal, wie furchtbar die Gegenstände sind, die einer zurückläßt, wenn er weggeht oder stirbt.
    Mutter machte tatsächlich einen Versuch zu essen, sicher sollte das bedeuten: Das Leben geht weiter oder etwas ähnliches, aber ich wußte genau: es stimmte nicht, nicht das Leben geht weiter, sondern der Tod. Ich schlug ihr den Suppenlöffel aus der Hand, rannte in den Garten, wieder zurück ins Haus, wo das Gekreische und
    Geschreie in vollem Gang war. Meine Mutter hatte sich an der heißen Suppe das
    Gesicht verbrannt. Ich rannte in Henriettes Zimmer hinauf, riß das Fenster auf und warf alles, so wie es mir zwischen die Hände kam, in den Garten hinaus:
    Schächtelchen und Kleider, Puppen, Hüte, Schuhe, Mützen, und als ich die
    Schubladen aufriß, fand ich ihre Wäsche und dazwischen merkwürdige kleine Dinge, die ihr bestimmt teuer gewesen waren: getrocknete Ähren, Steine, Blumen,
    Papierfetzen und ganze Bündel von Briefen, mit rosa Bändern umwickelt.
    Tennisschuhe, Schläger, Trophäen, wie es mir in die Hände kam, warf ich es raus in den Garten. Leo sagte mir später, ich hätte ausgesehen wie »ein Verrückter«, und es wäre so schnell gegangen, wahnsinnig schnell, daß niemand etwas hätte tun können.
    Ganze Schubladen kippte ich einfach so über die Fensterbank, rannte in die Garage und trug den schweren Reservetank voll Benzin in den Garten, kippte ihn über das Zeug und steckte es an: alles, was herumlag, stieß ich mit dem Fuß in die hohe Flamme, suchte alle Fetzen und Stücke, getrocknete Blumen, Ähren und die Briefbündel zusammen und warf sie ins Feuer. Ich lief ins Eßzimmer, nahm die Serviette mit dem Ring von der Anrichte, warf sie ins Feuer! Leo sagte später, das ganze habe keine fünf Minuten gedauert, und bevor einer ahnte, was geschah, brannte die Flamme schon lichterloh, und ich hatte alles reingeworfen. Es tauchte sogar ein amerikanischer Offizier auf, der meinte, ich verbrenne Geheimmaterial, Akten des großdeutschen Werwolfs, aber als der kam, war schon alles angesengt, schwarz und häßlich und
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