Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
eine
    Zigarette in den offenen Hut legen, der Griff zur Zigarettenschachtel fiel den meisten sicher leichter als zum Portemonnaie. Irgendwann würde natürlich einer auftauchen, der Ordnungsprinzipien geltend machte: Lizenz als Straßensänger, oder einer vom Zentralkomitee zur Bekämpfung der Gotteslästerung würde das Religiöse meiner
    Darbietung angreifbar finden. Für den Fall, daß ich nach Ausweisen gefragt wurde, hätte ich immer ein Brikett neben mir liegen, die Aufschrift »Heiz dir ein mit Schnier«
    kannte jedes Kind, ich würde mit roter Kreide das schwarze Schnier deutlich unter-streichen, vielleicht ein H. davor malen. Das wäre eine unpraktische, aber
    unmißverständliche Visitenkarte: Gestatten, Schnier. Und eins konnte mein Vater wirklich für mich tun, es würde ihn nicht einmal etwas kosten. Er konnte mir eine Straßensängerlizenz besorgen. Er brauchte nur den Oberbürgermeister anzurufen, oder ihn, wenn er in der Herren-Union mit ihm Skat spielte, darauf anzusprechen. Das mußte er für mich tun. Dann konnte ich auf der Bahnhofstreppe sitzen und auf den Zug aus Rom warten. Wenn Marie es fertigbrächte, an mir vorüberzugehen, ohne
    mich zu umarmen, blieb immer noch Selbstmord. Später. Ich zögerte, an Selbstmord zu denken, aus einem Grund, der hochmütig erscheinen mag: ich wollte mich Marie erhalten. Sie konnte sich von Züpfner wieder trennen, dann waren wir in der idealen Besewitz-Situation, sie konnte meine Konkubine bleiben, weil sie kirchlich ja nie mehr von Züpfner geschieden werden konnte. Ich brauchte mich dann nur noch vom
    Fernsehen entdecken zu lassen, neuen Ruhm zu erwerben, und die Kirche würde
    sämtliche Augen zudrücken. Mich verlangte ja nicht danach, mit Marie kirchlich getraut zu werden, und sie brauchten nicht einmal ihre ausgeleierte Kanone Heinrich den Achten auf mich abzuschießen.
    237
    Ich fühlte mich besser. Das Knie schwoll ab, der Schmerz ließ nach, Kopfschmerz und Melancholie blieben, aber sie sind mir so vertraut wie der Gedanke an den Tod.
    Ein Künstler hat den Tod immer bei sich, wie ein guter Priester sein Brevier. Ich weiß sogar genau, wie es nach meinem Tod sein wird: die Schniergruft wird mir nicht erspart bleiben. Meine Mutter wird weinen und behaupten, sie sei die einzige gewesen, die mich je verstanden hat. Nach meinem Tod wird sie jedermann erzählen,
    »wie unser Hans wirklich war«. Bis zum heutigen Tag und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeiten hinein ist sie fest davon überzeugt, daß ich »sinnlich« und »geldgierig«
    bin. Sie wird sagen: »Ja, unser Hans, der war begabt, nur leider sehr sinnlich und geldgierig - leider vollkommen undiszipliniert - aber so begabt, begabt.« Sommerwild wird sagen: »Unser guter Schnier, köstlich, köstlich -leider hatte er unausrottbare antiklerikale Ressentiments und keinerlei Gefühl für Metaphysik.« Blothert wird bereuen, daß er mit seiner Todesstrafe nicht früh genug durchgedrungen ist, um mich öffentlich hinrichten zu lassen. Für Fredebeul werde ich »eine unersetzliche Type«
    sein, »ohne jede soziologische Konsequenz«. Kinkel wird weinen, aufrichtig und heiß, er wird vollkommen erschüttert sein, aber zu spät. Monika Silvs wird
    schluchzen, als wenn sie meine Witwe wäre, und bereuen, daß sie nicht sofort zu mir gekommen ist und mir das Omelette gemacht hat. Marie wird es einfach nicht glauben, daß ich tot bin — sie wird Züpfner verlassen, von Hotel zu Hotel fahren und nach mir fragen, vergebens.
    Mein Vater wird die Tragik voll auskosten, voller Reue darüber sein, daß er mir nicht wenigstens ein paar Lappen heimlich auf den Garderobekasten legte, als er wegging. Karl und Sabine werden weinen, hemmungslos, auf eine Weise, die allen Teilnehmern am Begräbnis unästhetisch vorkommen wird. Sabine wird heimlich in
    Karls Manteltasche greifen, weil sie wieder ihr Taschentuch vergessen hat. Edgar wird sich verpflichtet fühlen, die Tränen zu unterdrücken, und vielleicht nach der Beerdigung in unserem Park die
    238
    Hundertmeterstrecke noch einmal abgehen, allein zum Friedhof zurückgehen und an der Gedächtnisplakette für Henriette einen großen Strauß Rosen niederlegen. Außer mir weiß keiner, daß er in sie verliebt war, keiner weiß, daß die gebündelten Briefe, die ich verbrannte, alle hinten als Absender nur E. W. trugen. Und ich werde ein weiteres Geheimnis mit ins Grab nehmen: daß ich Mutter einmal beobachtete, wie sie im Keller heimlich in ihre Vorratskammer ging, sich eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher