Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
Rolle Pfefferminz, ein Groschen für einen Bettler, er brauchte ja nicht einmal Streichhölzer, und wenn er sich einmal eine Schachtel kaufte, um sie für »Vorgesetzte«, denen er Feuer geben mußte, griffbereit zu haben, dann kam er ein Jahr damit aus, und selbst wenn er sie ein Jahr lang mit sich herumtrug, sah sie noch wie neu aus. Natürlich mußte er hin und wieder zum Friseur gehen, aber das nahm er sicher vom »Studienkonto«, das Vater ihm eingerichtet
    hatte. Früher hatte er manchmal Geld für Konzertkarten ausgegeben, aber meistens hatte er von Mutter deren Freikarten bekommen. Reiche Leute bekommen ja viel mehr 241
    geschenkt als arme, und was sie kaufen müssen, bekommen sie meistens billiger, Mutter hatte einen ganzen Katalog vom Grossisten: ich hätte ihr zugetraut, daß sie sogar Briefmarken billiger bekam. Sechs Mark siebzig - das war für Leo eine
    respektable Summe. Für mich auch, im Augenblick - aber er wußte
    wahrscheinlich noch nicht, daß ich - wie wir es zu Hause nannten - »im
    Moment ohne Einnahmen« war.
    Ich sagte: »Gut, Leo, vielen Dank - bring mir doch eine Schachtel Zigaretten mit, wenn du herkommst.« Ich hörte ihn hüsteln, keine Antwort, und fragte: »Du hörst mich doch? Wie?« Vielleicht war er gekränkt, daß ich mir gleich von seinem Geld Zigaretten mitbringen ließ. »Ja, ja«, sagte er, »nur . . .«er stammelte, stotterte: »Es fällt mir schwer, es dir zu sagen — kommen kann ich nicht.«
    »Was?« rief ich, »du kannst nicht kommen?«
    »Es ist ja schon viertel vor neun«, sagte er, »und ich muß um neun im Haus sein.«
    »Und wenn du zu spät kommst«, sagte ich, »wirst du dann exkommuniziert ?«
    »Ach, laß das doch«, sagte er gekränkt.
    »Kannst du denn nicht um Urlaub oder so etwas bitten?«
    »Nicht um diese Zeit«, sagte er, »das hätte ich mittags machen müssen.«
    »Und wenn du einfach zu spät kommst?«
    »Dann ist eine strenge Adhortation fällig!« sagte er leise.
    »Das klingt nach Garten«, sagte ich, »wenn ich mich meines Lateins noch
    erinnere.«
    Er lachte ein bißchen. »Eher nach Gartenschere«, sagte er, »es ist ziemlich
    peinlich.«
    »Na gut«, sagte ich, »ich will dich nicht zwingen, dieses peinliche Verhör auf dich zu nehmen, Leo — aber die Gegenwart eines Menschen würde mir gut tun.«
    »Die Sache ist kompliziert«, sagte er, »du mußt mich verstehen. Eine Adhortation würde ich noch auf mich nehmen, aber wenn ich diese Woche noch einmal zur
    Adhortation
    242
    muß, kommt es in die Papiere, und ich muß im Scrutinium darüber Rechenschaft
    geben.«
    »Wo ? « sagte ich, »bitte, sags langsam.« Er seufzte, knurrte ein bißchen und sagte ganz langsam: »Scrutinium«.
    »Verdammt, Leo«, sagte ich, »das klingt ja, als würden Insekten
    auseinandergenommen. Und › in die Papiere ‹ - das ist ja wie in Annas I. R. 9. Da kam auch alles sofort in die Papiere, wie bei Vorbestraften.«
    »Mein Gott, Hans«, sagte er, »wollen wir uns in den wenigen Minuten über unser Erziehungssystem streiten?«
    »Wenns dir so peinlich ist, dann bitte nicht. Aber es gibt doch sicher Wege - ich meine Umwege, über Mauern klettern oder etwas ähnliches, wie beim I. R. 9. Ich meine, es gibt doch immer Lücken in so strengen Systemen.«
    »Ja«, sagte er, »die gibt es, wie beim Militär, aber ich verabscheue sie. Ich will meinen geraden Weg gehen.«
    »Kannst du nicht meinetwegen deinen Abscheu überwinden und einmal über die
    Mauer steigen?«
    Er seufzte, und ich konnte mir vorstellen, wie er den Kopf schüttelte. »Hats denn nicht Zeit bis morgen? Ich meine, ich kann die Vorlesung schwänzen und gegen
    neun bei dir sein. Ist es so dringend? Oder fährst du gleich wieder los ?«
    »Nein«, sagte ich, »ich bleibe eine Zeitlang in Bonn. Gib mir wenigstens Heinrich Behlens Adresse, ich möcht ihn anrufen, und vielleicht kommt er noch rüber, von Köln, oder wo er jetzt sein mag. Ich bin nämlich verletzt, am Knie, ohne Geld, ohne Engagement - und ohne Marie. Allerdings werde ich morgen auch noch verletzt, ohne Geld, ohne Engagement und ohne Marie sein - es ist also nicht dringend. Aber vielleicht ist Heinrich inzwischen Pastor, hat ein Moped, oder irgend etwas. Hörst du noch ?«
    »Ja«, sagte er matt.
    »Bitte«, sagte ich, »gib mir seine Adresse, seine Telefonnummer.«
    Er schwieg. Das Seufzen hatte er schon raus, wie jemand,
    243
    der hundert Jahre lang im Beichtstuhl gesessen und über die Sünden und Torheiten der Menschheit geseufzt hat.
    »Na
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher