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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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nicht. Eine andere Folge ist ein verheerender Zuständigkeitskrieg einschließlich der damit verbundenen Eifersüchteleien, Umwege und Blockaden.
    Genau genommen haben wir es also mit zwei Blockaden zu tun, einer vertikalen und einer horizontalen. Auf der vertikalen begegnen uns solche Befremdlichkeiten, dass die Stadt zwar für die Schulgebäude zuständig ist, aber das Land für deren Personal. Warum sollen sich die Schulleiter und Lehrer ihre Kollegen eigentlich nicht selbst aussuchen dürfen, je nachdem, ob man meint, dass ein neuer Lehrer gut ins Kollegium passt oder nicht? Die Lehrerlandverschickung durch die Kultus- und Bildungsministerien ist ein Anachronismus, der die Pflege einer Beziehungs- und Verantwortungskultur in den Schulen erschwert. Auf der horizontalen Ebene kommen sich die Kompetenzen der Ministerien in die Quere, wenn Landesjugendämter und Sozialdezernenten mit Schulräten, Schuldezernenten und Schuldirektoren um Zuständigkeit, Einfluss und Finanzierungen streiten.
    Dass dieses System zu umständlich, zu ineffektiv, zu langsam und zu teuer ist, wissen alle daran Beteiligten. Aber wer soll für wen weichen? Ein Zusammenlegen der Ministerien im Bund und in den Ländern wäre ein erster Schritt. Ein zweiter wäre die immer wieder diskutierte Gründung eines Nationalen Bildungsrats, angesiedelt beim Bundespräsidenten. Dieser aber funktioniert nur unter der zentralen Bedingung, dass Bund und Kommunen hier stimmrechtlich in der Mehrheit sind. Alles andere wäre völlig überflüssig, denn die Kunst der wechselseitigen Blockade konnten die Länder bisher ja bereits ungestört in der Kultusministerkonferenz ausleben: Jeder macht, was er will, keiner macht, was er soll, aber jeder macht irgendetwas.
    Die Bildungsrevolution gelingt also nur dann, wenn die Länder wichtige Zuständigkeiten aus der Hand geben. Eine Supervisor-Kompetenz an den Bund und sehr viele andere Kompetenzen an die Kommunen beziehungsweise deren Schulen. Aufgabe des Bundes wäre es dann, die Bildungspolitik zu koordinieren, Standards festzulegen und in wichtigen Fällen Zuschüsse bereitzustellen. Die Kommunen aber bekämen ein weitreichendes Selbstbestimmungsrecht über ihre Schulen.
    Kein überzeugendes Argument rechtfertigt dagegen den gegenwärtigen Zustand. Dass die Macht der Länder über die Schulen verfassungsrechtlich garantiert ist, legitimiert nicht deren Missbrauch durch zu viel Einmischung im Detail. Zudem sind unsere Bundesländer nicht im Ansatz jene besonderen Kultureinheiten, für die sie sich gern ausgeben. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel ist keine so markante Kulturgemeinschaft, dass es typisch nordrhein-westfälische Schulbesonderheiten zu berücksichtigen gäbe. Die echten Besonderheiten liegen allesamt nicht auf der Ebene der Länder; vielmehr sind es die Besonderheiten von Dörfern, Kleinstädten, Mittelstädten und Großstädten. Und selbst innerhalb einer Großstadt können die Verhältnisse ganz besonders sein, je nachdem, ob es sich um einen sozialen Brennpunkt handelt oder einen Villenvorort. Diese Gegebenheiten gilt es zu berücksichtigen, aber nicht die von völlig heterogenen Verwaltungseinheiten wie Bundesländern! Das gilt selbst für Bayern.
    Die politische Forderung lautet: eine klare Vision für das deutsche Schulsystem auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule und zugleich mehr Gestaltungsfreiheit für Schulen und Kommunen bei der Umsetzung. In einem vereinten Europa, das auf gemeinsame Bildungsstandards hinarbeitet und auch auf eine gemeinsame Schulform, lässt sich die Kleinstaaterei der deutschen Schulpolitik nicht länger aufrechterhalten. Sollen wir erst warten, bis Europa die integrative Ganztagsschule in Deutschland einführt, weil sie allmählich überall Standard wird? Um dann völlig überfordert zu sein und auf Europa zu schimpfen?
    Die Zeit der Eigenbrödelei der Länder in der Schulpolitik ist vorbei, der Felsen, auf dem unsere Kultusminister stehen, ist längst unterspült, und die nächste Welle wird ihn brechen. Statt wie zurzeit mithilfe privater Stiftungen strukturell schwache Regionalisierungsinitiativen zu starten, damit letztlich alles beim Alten bleibt, ist ein Kompetenzverzicht unvermeidbar – eine Forderung, mit der man, wie gesagt, gewiss bei Wahlkämpfen punkten kann, wenn man sich denn traut …
    Die Schulen und ihre Entwicklung zu entfesseln, ihnen nur Form und Standards vorzugeben, aber alles Weitere sie selbst bestimmen zu lassen, ist das Gebot der Stunde. Keine
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