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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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« . Eine wirkliche Kraftanstrengung wie bei der Rettung systemrelevanter Banken oder der Energiewende scheint die Revolution unseres Bildungssystems nicht wert zu sein.
    Man muss sich die Lage nur einmal in einer kurzen Zusammenfassung vor Augen führen, um zu erkennen, wie groß der Handlungsbedarf ist: Für Kleinkinder fehlen in Deutschland mehr als 200 000 Betreuungsplätze; eine flächendeckende Frühförderung gibt es nicht; unser Schulsystem selektiert Grundschüler früher als fast alle anderen OECD -Länder und schickt dabei Zehnjährige auf Hauptschulen, deren soziales Klima sie im Eiltempo nach unten zieht; sieben bis acht Prozent eines jeden Schülerjahrgangs verlassen die Schule ohne Abschluss und belasten später die Sozialkassen; der wichtigste Selektionsfaktor ist das Elternhaus und nicht die Begabung; unsere Schulen zwingen Kinder und Jugendliche zum Bulimie-Lernen, von dem am Ende kaum etwas als Bildung übrig bleibt; statt individuellem Lernen müssen unsere Kinder im Gleichschritt durch die Schule gehen, die einen sind überfordert, die anderen unterfordert; eine wirklich zureichende Förderung findet nicht statt; die Schwachen werden aussortiert, die Starken nicht gefordert; die Taktung des Unterrichts in Fünfundvierzig-Minuten-Einheiten widerspricht allen Erkenntnissen der Lernpsychologie; statt in für das Leben bedeutsamen Projekten lernen unsere Kinder » Fächer « , die es als solche eigentlich gar nicht gibt; zusammenhängendes Denken wird nicht trainiert; wichtige Bereiche wie etwa Ökonomie kommen in der Schule kaum vor; unsere Kinder werden so behandelt, als wären sie Gehirne auf Beinen, in ihrer Leiblichkeit können sie sich nur in einem » Fach « , beim Sport, entfalten; unser Notensystem zerstört die intrinsische Motivation und fördert den Korrumpierungseffekt; ein persönliches Monitoring gibt es kaum; Konzentration und Selbstaufmerksamkeit werden nicht eingeübt; unsere Referendare werden nicht auf Eignung überprüft; das Referendariat ist zu theorielastig und bereitet nicht auf die sozialen, emotionalen und artistischen Herausforderungen vor; mehr als die Hälfte unserer Lehrer klagt über Stress und denkt über Frühpensionierung nach; in den Schulen mangelt es an einer Beziehungs- und Verantwortungskultur; unter den gegenwärtigen Bedingungen wollen, anders als in anderen Ländern, immer weniger Menschen Lehrer werden etc.
    Nein, dieses System darf nicht » ausgebaut « werden! Vielmehr müssen wir es umbauen, und zwar in einem sorgsam abgestimmten Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen. Von den 100 Milliarden Euro Bildungsausgaben im Jahr 2009 stellten der Bund 6,2 Milliarden Euro, die Länder 71,9 Milliarden Euro und die Gemeinden 21,8 Milliarden Euro bereit. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass sich das Bildungssystem in Deutschland deswegen so schwer verändern lässt, weil der heiße Strahl jeder guten Idee auf dem langen Weg durch die Politik, das Parteiengezänk, die Kultusbürokratie und die Kommunalstreitigkeiten erkaltet und als müde rieselnder Bach niemanden mehr zu großem Handeln bewegt. Und wo eine gemeinsame Großanstrengung samt Strategie und Umsetzungsfahrplan erforderlich wäre, herrscht kleinlicher Hickhack und Geschacher auf und zwischen allen drei Ebenen. Ein großer Wurf, der nicht wie die Mezquita von Córdoba endet, ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten, so laut und heftig er auch immer gefordert wird. Kein Wunder, dass Zynismus eine der vorherrschenden Haltungen in der deutschen Bildungsdebatte geworden ist; er entsteht, wie der italienische Schauspieler Alberto Sordi einmal gesagt hat, » wenn ein heißes Gefühl kalt geduscht wird « .
    Natürlich lässt sich sagen, dass es sich in der Bildungspolitik um einen komplizierten Prozess der Willensbildung handelt. So ist eben Demokratie! Und selbst da, wo man tatsächlich einmal über die Parteigrenzen hinaus solidarisch ist, wie bei der Reform in Hamburg, muss man immer noch mit Widerstand und Einsprüchen rechnen. Aber vielleicht sollte man sich ein Beispiel an der Bildungsrevolution in den sechziger Jahren nehmen und fragen: Wieso war damals möglich, was heute unmöglich zu sein scheint? Warum fehlt es den Verantwortlichen heute so sehr an Mut und Vertrauen, dass eine solche Revolution möglich ist? Warum wird sie nicht wie damals zu einer Lawine? Und warum fehlt der Teamgeist, einen Masterplan zu erstellen, dem sich jeder Kultusminister, im Verzicht auf eigene Vorlieben und
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