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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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begründete, aber ›ergebnisoffene‹ Versuche nicht leisten, ist selbst nicht frei … « 142 Und natürlich hat man es dabei überall mit dem Humboldt-Dilemma der Ungleichzeitigkeit zu tun. Um den Wandel zu schaffen, muss man die Lehrer, die Schüler, die Kultusminister und die Eltern eigentlich bereits voraussetzen, die man überhaupt erst durch das neue Lernen hervorbringen möchte.
    Die Geschichte der Pädagogik in Deutschland ist eine Geschichte des ewigen Hinterherhinkens der Praxis hinter den Einsichten der Zeit. Dies gilt von den preußischen Schulen Humboldts über das Tayloristische Schulsystem zur Zeit der Reformpädagogik. Und noch zur Blütezeit Klafkis und von Hentigs gab es an meinem Solinger Gymnasium schlagende Lehrer, Kollektivstrafen und Pädagogen, die die halbe Klasse für » dumm « erklärten.
    Wer etwas verändern will, setzt sich Ziele. Und wer etwas verhindern will, sucht Gründe. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft in der Bundesrepublik erleben wir seit einiger Zeit, von wenigen Ausnahmen wie etwa der Energiewende abgesehen, den Sieg der Gründe über die Ziele. Selbst die Kämpfe um die Einheit Europas werden heute fast ohne Ziele ausgetragen. Vielmehr bekämpft man Gründe, warum etwas nicht geht, mit anderen Gründen, warum etwas nicht geht. Vielleicht ist das die Folge einer im Durchschnitt sehr wohlhabenden und zudem überalterten Gesellschaft. Solche Gesellschaften haben vor allem davor Angst, dass es schlechter werden könnte. Ziele dagegen entstehen meist aus Hunger und physischer oder psychischer Not. Eine Gesellschaft, die im Politischen seit Jahrzehnten kaum existenzielle Nöte und Erschütterungen kennt, schafft hingegen eher einen Angststillstand und fürchtet Veränderungen. In einer solchen Gesellschaft äußert sich Unzufriedenheit selten in Utopien, sondern zumeist in Verdruss – man denke nur an die stetig steigende Parteienverdrossenheit in Deutschland.
    Eine solche Situation unterscheidet sich in vielem von Georg Pichts Zeiten mit ihrer gesellschaftlichen Risikofreude und ihren sozialen Utopien. Dafür aber ist die Finanzierung der Umbauten heute im Grunde sehr viel leichter. Die Steuereinnahmen und der Bundeshaushalt sind um ein Vielfaches größer und das Land ist sehr viel reicher als in den sechziger Jahren. Leider wird das Geld für Bildung und Familien auf so dämliche Weise verteilt, dass tatsächlich oft von » leeren Kassen « die Rede ist. Während in Dänemark mehr als die Hälfte aller Ausgaben für » Familie « an Bildungseinrichtungen geht, fließt bei uns das allermeiste Geld direkt in die privaten Haushalte. Wozu in aller Welt erhalten Spitzenverdiener Kindergeld? Wäre es nicht viel sinnvoller, das Kindergeld abzuschaffen und nur Bedürftigen zukommen zu lassen? Mit den gewaltigen Ersparnissen könnte man mühelos die Kosten der Bildungsrevolution bezahlen, die Ganztagsschule, mehr Lehrer, Lernpsychologen und Sozialarbeiter. Jörg Dräger, der ehemalige Hamburger Senator für Wissenschaft und Forschung und heutiges Mitglied im Vorstand der Bertelsmann Stiftung, hat berechnet, dass das Umschichtungspotenzial bei etwa 35 Milliarden Euro liegt. Dabei verlangt er noch nicht einmal die Abschaffung des Kindergelds für alle, sondern nur die Rücknahme der Kindergelderhöhung von 2010, die Abschaffung des Elterngelds für Gutverdiener und des Ehegattensplittings für kinderlose Paare, den Verzicht auf das Betreuungsgeld sowie einige Umbaumaßnahmen im Bildungssystem, wie etwa den Verzicht auf das Sitzenbleiben. 143
    Die geforderte Zusammenlegung der Bundes- und Landesministerien würde diese strukturelle Umschichtung beträchtlich erleichtern. Aber all dies setzt eine Politik voraus, die sich tatsächlich an Zielen orientiert und in die Zukunft investiert, statt sich in Gründen zu verlieren und sich mit Notoperationen und Reparaturmaßnahmen begnügt. Selbstverständlich sind Ziele mit zusätzlichen Anstrengungen, mit Aufwand und Risiken verbunden. Doch wer kalkuliert die Risiken, was wohl aus diesem Land wird, wenn keine Veränderungen vorgenommen werden und alles beim Alten bleibt?
    Ideen und Konzepte brauchen harte Konturen, um langfristig erfolgreich zu sein. Sie müssen sich im Gefilz von Ideologien und Egoismen, den Aufregungs- und Entrüstungsreflexen der Massenmedien und dem langen Marsch durch die Bürokratie behaupten. Und doch lohnt es sich, im Interesse unserer Kinder, unserer Lehrer und unseres Landes dafür zu kämpfen, dass die
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