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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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Revolution der Gegenwart. Nicht anders wird es mit der Bildungsrevolution im deutschen Schulsystem sein.
    Natürlich wird es Einwände von Pädagogik-Professoren, Journalisten und Bildungspolitikern geben, die Debatte doch bitte » unaufgeregter « zu führen, » weil es doch sonst nichts bringt « . Aber das Argument ist so falsch, wie es naheliegend ist. Große Veränderungen werden nicht durch ewig gesuchte Mittelwege und jahrelang abgewogene Gedanken erreicht. Wer das glaubt, möchte im Grunde eigentlich gar nichts verändern. Ganz im Gegenteil: Für jede große Veränderung in der Gesellschaft wird zunächst eine aufgeregte Debatte gebraucht – und sei es als Voraussetzung für unaufgeregte Lösungen. Ohne Leidenschaft, Emotion und mitunter auch ohne die eine oder andere Zuspitzung wird es nicht gehen, wenn es tatsächlich zu strukturellen Veränderungen kommen soll. Wer Ministerien zusammenlegen, lieb gewonnene Zuständigkeiten ändern, ein überholtes Schulsystem schnellstmöglich austauschen möchte, der schafft dies nicht mit sanften Abwägungen. Es gibt viele Situationen und Phasen, in denen Besonnenheit eine hohe Tugend ist. Aber es gibt ebensolche Situationen, in denen Besonnenheit und Maßhalten nur ein Indiz sind für fehlenden Mut oder mangelnden Veränderungswillen. Besonnenheit ist kein sicheres Zeichen von Klugheit, auch wenn sie häufig mit jener verwechselt wird. » Wer über bestimmte Dinge den Verstand nicht verliert, hat keinen zu verlieren « , heißt es bei Gotthold Ephraim Lessing.
    Man sollte den Begriff » Bildungsrevolution « nicht scheuen, geht es doch tatsächlich um eine Umwälzung hin zu etwas Neuem. Diese Revolution bedeutet nicht, einzelne Schulen zu stürmen und zu revolutionieren, sondern sie im angemessenen Tempo zügig umzubauen. Man kann also sagen: Damit die Bildungsrevolution gelingt, erfordert es sehr viel Transformation im Kleinen. Nicht anders war es bei der digitalen Revolution: Die Summe sehr vieler kleiner und schneller Veränderungen revolutioniert eine ganze Kultur.
    Viele wichtige Veränderungen werden sich, realistisch betrachtet, nur schrittweise durchführen lassen. Auf dem Weg zur integrativen Gemeinschaftsschule für alle wird aus dem dreigliedrigen Schulsystem zunächst ein zweigliedriges werden, nämlich die Gemeinschaftsschule und das Gymnasium. Während es in Ländern wie Thüringen und Sachsen bereits ein zweigliedriges System gibt, haben wir es in Ländern wie Hessen oder Nordrhein-Westfalen sogar noch mit vier- und fünfgliedrigen Schulsystemen zu tun. Das Zusammenlegen der Bundesministerien wäre schon im Herbst nach der Bundestagswahl 2013 möglich, in den Ländern dagegen dauert die Verschmelzung länger. Die Einführung des Bildungsrats ginge schnell, seine Akzeptanz dagegen bleibt eine mühselige Sache. Bis unsere Ganztagsschulen aus einem Guss sind und nicht mehr der Zankapfel zweier Ministerien, ist mit mindestens fünf Jahren zu rechnen. Die Lehrerausbildung zu revolutionieren, ist ein ganz dickes Brett und braucht eine gewaltige Kraftanstrengung – obwohl sie von allen Veränderungen wahrscheinlich die wichtigste ist. Individuelles Lernen zu einem integralen Bestandteil des Unterrichts zu machen, ginge vermutlich recht zügig, ebenso die Umstellung der Lehrer auf Teamarbeit und eine Verkürzung der Lehrerarbeitszeit. Ziffern-Zensuren dagegen werden sich nicht im Handstreich abschaffen lassen. Kinder, die viele Jahre durch ein solches extrinsisches Belohnungssystem konditioniert worden sind, werden große Schwierigkeiten haben, plötzlich ihre intrinsische Motivation zu entdecken, die so lange verschüttet wurde. Die allmähliche Umstellung dauert also mindestens zehn Jahre.
    Um all diese Ziele im Auge zu behalten und sich nicht mit Stückwerk abzufinden, benötigt man Mut. Nicht immer werden die Teile sofort ineinandergreifen. Jede neue gute Idee muss sich gegen Widerstände und Einwände behaupten. Und alles steht und fällt mit der Mentalität der Menschen, die das Neue versuchen und umsetzen. Das eine oder andere Scheitern ist damit nicht ausgeschlossen, und unvorhergesehene Probleme werden allenthalben auftreten. Doch » in der Pädagogik nur zuzulassen, was generalstabsmäßig gesichert ist, hieße, mit noch so vielen Maßnahmen nichts verändern « , erkannte dazu Hartmut von Hentig. » Die Pädagogik ist nach John Deweys zugespitzter Überzeugung das Laboratorium der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die glaubt, sie könnte sich
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