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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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Anwaltsrobe trug er bereits. Mit einem eingespielten Handgriff rückte er sich die Brille zurecht, als wir zu unserem Platz gingen. Einen Gruß brachte er nicht über die Lippen.
    Der Arbeitsrichter betrat den Raum und begann die Ableistung der üblichen Rituale: Aufstehen, Hinsetzen und Namen mit der Einführung. Dann ging es sofort zur Sache. Der Richter forderte den anderen Anwalt auf, seine Argumente auszuführen. Das ließ der sich nicht zweimal sagen. Sofort sprudelte eine in meinen Augen bis ins Detail konstruierte Geschichte nur so aus ihm heraus. Unfassbar, was da alles auf den Tisch kam. Mein Mandant sah aus wie ein elender Verbrecher, der es nur darauf angelegt hatte, seine Firma zu schädigen.
    Nachdem der Anwalt fertig war, blickte der Richter in Richtung meines Mandanten. Der Gegenanwalt kramte derweil selbstzufrieden in seinen Sachen. »Nun, Sie haben gehört, was man Ihnen vorwirft. Was sagen Sie dazu? Natürlich nur, wenn Sie etwas sagen wollen.«
    Mein Mandant schaute mich an.
    »Selbstverständlich wollen, ja müssen wir was dazu sagen. Denn die Geschichte, die wir eben gehört haben, ist falsch«, begann ich.

    Der andere Anwalt warf sofort eine der üblichen Anwaltsfloskeln ein: »Das werden Sie aber beweisen müssen.«
    »Lassen Sie das mal meine Sorge sein«, hielt ich eine andere Floskel dagegen.
    »Bitte, meine Herren, so kommen wir doch nicht weiter«, beschwichtigte der Richter. »Also, wie war es nun aus Ihrer Sicht?«
    Mein Mandant erzählte seine Sicht der Dinge. Es war die Geschichte, die er mir schon bei unserem ersten Gespräch in der alten Kanzlei erzählte. Bis ins kleinste Detail gleich. Das konnte man sich nicht ausdenken und auch nicht so fehlerfrei über die lange Zeit behalten. Das war schlicht und einfach die Wahrheit.
    Allerdings galt vor Gericht nur die bewiesene Wahrheit. Um die auch zu beweisen, nannte er einige Arbeitskollegen, die seine Version bezeugen könnten. Er hatte ihnen erzählt, dass er die Fahrtkosten für den Jungen als kleines Feriengeschenk übernommen hatte. Und zwar bevor er wusste, dass er beobachtet und bei seinem Arbeitgeber wegen einer angeblichen Leistungserschleichung gemeldet worden war.
    Da unterbrach ihn der gegnerische Anwalt unwirsch. »Also, das können Sie ganz schnell in die Tonne treten. Wir haben alle Kollegen gefragt und niemand, also wirklich kein Einziger, konnte sich noch an etwas erinnern. Ich fürchte, Sie werden das nicht beweisen können, was Sie da so freimütig behaupten.«
    Damit hatte er den neuralgischen Punkt getroffen. Welcher Arbeitnehmer in der heutigen Arbeitsmarktsituation hatte den Mut, gegen seinen Arbeitgeber auszusagen, wenn es nicht um eigene, sondern um fremde Interessen ging? Auch wenn daraus eigentlich kein Nachteil entstehen sollte und von Gesetzes wegen auch nicht durfte, vertrauten die meisten Arbeitnehmer hier mehr auf die Kraft des Vergessens. Denn eine Gedächtnislücke
konnte einem niemand übel nehmen und man war fein raus. Den eigenen Allerwertesten gerettet und alles andere war doch Nebensache! Die Folge für meinen Mandanten war, dass er die Wahrheit nicht beweisen konnte. Er hatte keine Zeugen. Und das hieß: Der Prozess würde nur deshalb verloren werden. Da hilft auch die beste Anwaltskunst nicht. Genau das musste ich ihm sagen, weshalb ich um eine kurze Unterbrechung bat.
    »Aber nur fünf Minuten«, gab uns der Richter mit auf den Weg, »sonst komme ich in Verzug mit den anderen Fällen.« Das war kein Wunder, denn üblicherweise waren bei diesem Gericht nur 15 Minuten pro Termin angesetzt. In dieser Zeit soll dann abschließend über so gravierende Einschnitte wie den Verlust des Arbeitsplatzes verhandelt werden. Es drängte sich der Eindruck auf, dass die mündliche Verhandlung nur deshalb durchgeführt wurde, weil sie im Gesetz stand und zudem Möglichkeit bot, einen Vergleich zu schließen. Urteile konnte man schließlich schriftlich abfassen und das Bedürfnis der unmittelbar Betroffenen, auch Gehör zu bekommen, wurde von vielen Juristen oft als nachrangig und lästig eingestuft. Aber das erklärte ich meinem Mandanten nicht, sondern nur die düsteren Erfolgsaussichten in der Sache. Schweigend und ohne sichtbare Regung hörte er meinen schlechten Botschaften zu. Eine miese Situation. Als ich mit meinen Ausführungen zum Ende kam, erwartete ich einen Wutanfall oder eine ähnliche Regung. Aber nichts passierte. Der Mandant stand weiter einfach nur ruhig da.
    »Darf ich denn auch was sagen, oder
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