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Animus

Animus

Titel: Animus
Autoren: Marina Heib
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im Rauch. Ich sehe durch eine wackelnde Fernsehkamera eines getroffenen Reporters, höre noch mehr Schüsse, Maschinengewehrsalven, Schreie, zerberstende Autoscheiben, sehe wankende, blutende Menschen, maskierte Menschen, die auf die Kamera zurennen, sie umwerfen, im Fallen streift das Bild eine alte Frau, die in einem ganz anderen Stadtteil im Morgenmantel im Hauseingang steht mit der Milchflasche in der Hand, die Milchflasche zerspringt, das Bild ist weg, ein anderes ist da. Es sind viele Bilder, zu viele Bilder. Sie schreien mich an: von Handgranaten aufgerissene Erde. Im Sterben verwundert aufgerissene Augen. Aufgedunsene Körper, um die sich keiner kümmert. Verlorene Schuhe. Handtaschen, deren Inhalt zerstreut ist. All die Menschen. All die Leichen. Und Angst. Überall Angst.
    Wir nähern uns dem Südeingang des Weißen Hauses. Mir ist so übel, dass ich gebückt gehen muss. Meine Gedärme rebellieren. Krampfen. Es tut weh, so weh. Wir nähern uns dem Brunnen. Ich will nicht hinsehen. Ich will es nicht wissen! Aber mein Blick hebt sich. Ich kann nichts dagegen tun, sosehr ich mich dagegen wehre. Ich muss hinsehen. Ich sehe es. Das alles. Lange Stäbe. Verkrustetes, verklumptes Blut an den Stäben. Köpfe gepflanzt. Zehn. Zwanzig. Dreißig. Einer neben dem anderen. Ausgehackte Augen, leere Höhlen … die Lanzen … die Köpfe – da sind sie. Wie oft habe ich sie gesehen in meinen qualvollen Nächten. Wie sehr wollte ich sie verhindern! Wie dumm ich war!
    Es ist jetzt, als würde ich durch eine Raum-Zeit-Maschine in eine andere Welt hineingesogen, eine, die nicht wahr sein darf. Ich muss mir nur die Augen reiben, um aufzuwachen in einer Welt ohne Lanzen. Ohne Köpfe, mit leeren Augenhöhlen und herausquellenden Zungen. In einer Welt ohne Schuld. Bitte. Bittebittebitte.
    Ich gehe in die Knie, sacke zu Boden. Pete bittet Conrads spöttisch grinsende Schergen, kurz zu warten. Er stützt mich, versucht, mich hochzuzerren. Zischt mir zu, ich dürfe jetzt nicht schlappmachen.
    Schlappmachen? Ich lache und lache, bis ich weine. »Verstehst du nicht? Wir haben uns geirrt. Eine Verkehrung von Ursache und Wirkung, von Opfer und Täter! Katya und ich … wir dachten, wir sind die Opfer . Welch ein Irrtum! Wir sind die Täter ! Wir haben genau das ausgelöst, was wir verhindern wollten. Ohne uns wäre nichts passiert! Wenn wir nicht all das verursacht hätten, hätte ich es auch nicht sehen können. Wenn ich all das nicht gesehen hätte, die Lanzen, die Köpfe, wir hätten es nicht getan. All meine Visionen … Nur die schrecklichen Folgen dessen, was wir selbst initiiert haben! Ich bin schuld … die Toten … Katya! Und die Welt liegt im Chaos. Der Professor hat uns mal von der Bedeutung des lateinischen Wortes ›Animus‹ erzählt. Die perfekte Symbiose von Denken und Empfinden. Das hat funktioniert. Aber das Chaos besteht aus unendlich vielen Aspekten. Und wir haben das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung übersehen.«
    Ich weiß nicht, ob Pete begriff, wovon ich auf so unzusammenhängende Art und Weise stammelte. Ob er verstand, dass ich die Wahrheit die ganze Zeit geahnt hatte, aber es mir nicht eingestehen wollte. Dass ich deshalb zurückkommen musste, um Klarheit zu finden. Ich glaube nicht. Aber er tat das einzig Richtige. Er zerrte mich hoch, schüttelte mich kräftig und schnauzte mich an.
    Plötzlich war ich ganz ruhig. Pete hatte recht, ich musste mich konzentrieren. Viel gab es nicht mehr zu tun. Ich bat den jungen Mann, uns zügig zu Conrad zu führen. Sowohl der Terrorist als auch Pete waren überrascht von meiner plötzlichen Gefasstheit nach diesem unkontrollierten Ausbruch. Dabei hatte ich bloß die Notwendigkeit der Anpassung an die Situation erfasst. Ich war verloren in meiner Schuld, in meiner endlosen Nacht. Bestenfalls konnte ich noch irgendetwas halbwegs geradebiegen. Von all dem, was schiefgelaufen war. Genau das wollte ich tun. Mehr nicht. Alles andere interessierte mich nicht mehr. Alles fällt leicht, wenn man nichts zu verlieren hat.
    Als wir im Oval Office anlangten, wurden wir zuerst gründlich nach Waffen und Verkabelung untersucht. Dann bot uns Conrad formvollendet einen Platz an. Wir setzten uns auf das Sofa gegenüber der First Lady und ihrer Tochter. Die beiden sahen reichlich mitgenommen aus. Rechts und links hinter Conrad standen zwei bis an die Zähne bewaffnete Bodyguards.
    »Ich freue mich außerordentlich, dass wir uns endlich alle persönlich kennenlernen.« Conrad
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