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Animus

Animus

Titel: Animus
Autoren: Marina Heib
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tankten an kleinen Militärflughäfen in Alabama und North Carolina auf. March hatte bislang Wort gehalten und mich nicht zur Fahndung ausgeschrieben, sodass mein Ausweis uns immer noch schützte und zu dem nötigen Treibstoff verhalf. Das ließ mich hoffen, in Washington nicht sofort nach der Ankunft in Haft genommen zu werden. March schien Lucy und mir für die Rettung seines Lebens außerordentlich dankbar zu sein. Dennoch konnten sich die Umstände jederzeit drastisch ändern, sodass March keinen Pfifferling mehr auf uns gab. Falls er überhaupt noch lebte.
    Erykah hatte recht. Es war Wahnsinn, dass wir zurückflogen. Aber ich verstand Lucy. In ihrem Leben hatte es eine sehr lange Zeit nur Katya gegeben und vielleicht die vage Hoffnung auf Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben. Katya war tot. Die Freiheit schmeckte für Lucy nun nach Blut. Nach Katyas Blut und dem der vielen Unschuldigen, die in Washington umgekommen waren. Sie fühlte sich schuldig. Sie wollte es wieder geradebiegen. Die Geister, die sie gerufen hatte, wieder loswerden. Ich fürchtete, dass sie bereit war, jede mögliche Dummheit zu begehen, um ihr Gewissen zu erleichtern. Ich würde sehr gut auf sie aufpassen müssen.
    Aber ich war nicht nur deswegen bereit gewesen, sie nach Washington zu fliegen. Ohne mich hätte sie Tage gebraucht, und vielleicht hätte sie ihren wahnwitzigen Plan aufgegeben. Obwohl es vermutlich weniger ein Plan war als ein Gefühl der Getriebenheit. Mir ging es wie Lucy: Ich musste zurück. Auch ich hatte etwas geradezubiegen. Mein Abgang war alles andere als sauber gewesen. Dass ich keine Ahnung von dem Attentat gehabt hatte, reichte nicht zur Entschuldigung. In der Sekunde, als Lucy mir sagte, ich solle Frank vom Roosevelt-Zimmer wegholen, war mir klar gewesen, dass etwas Schreckliches passieren würde. Ich hätte viel mehr Kollegen retten können und müssen als nur Frank und March.
    Während des gesamten Fluges sprachen wir kaum. All den drängenden Fragen wichen wir in stummem Einvernehmen aus. Lucy zündete mir ab und zu eine Zigarette an, steckte sie mir zwischen die Lippen. Etwa eine Stunde lang ließ sie sich von mir die Funktionsweise eines Helikopters erklären. Dann verfiel sie wieder in tiefe Nachdenklichkeit. Je näher wir Washington kamen, desto unruhiger wurde sie. Sie atmete sehr schnell, ein kleiner Schweißfilm stand auf ihrer Oberlippe. Ihre Hände waren ständig in Bewegung. Sie spürte Gefahr. Sie spürte den Tod, der in Washington einmarschiert war.
    Ich landete auf dem Gelände des Army Navy Country Clubs. Die Rotorblätter wirbelten den frisch gefallenen Schnee auf. Niemand war da, der uns hätte Schwierigkeiten machen können. Es herrschte eine unnatürliche Stille. Wir liefen durch ein paar unbelebte Seitenstraßen unter dem Washington Boulevard hindurch, bis wir zum Arlington National Cemetary kamen. Auch hier Totenstille. Nur das entfernte Geräusch vereinzelter Autos von den nahe gelegenen Highways. Normalerweise umgab die Friedhofsbesucher ein beständiges Tosen von unzähligen Motoren. Doch nichts war normal. Vom südlichen Teil des Friedhofs, etwa auf Höhe des Pentagons, waren vereinzelte Schüsse zu hören. Die Luft roch nach Schnee, Rauch und Explosivstoffen. Lucy wurde übel. Sie kotzte in ein Gebüsch zwischen zwei Gräbern. Wir liefen weiter zum nördlichen Rand des Friedhofs.
    »Wo willst du hin?«, fragte Lucy. Das Atmen fiel ihr schwer.
    »Zu einer Kapelle.«
    »Klar. Gott wird sich voll reinhängen für uns!«
    Die Kapelle war abgesperrt, doch es machte mir keine Mühe, das alte Schloss in der verwitterten Holztür zu öffnen. Lucy sah sich kurz um.
    »Und jetzt? Beichten? Kniefall?«
    »Hör auf zu spotten.« Ich zog Lucy hinter den Altar. Dort griff ich in eine Fuge im Mauerwerk, die in einer so dunklen Ecke gelegen war, dass niemandem eine Unregelmäßigkeit im Mörtel auffallen würde. Als ich in die Fuge drückte, schob sich unter dumpfem Knirschen ein Quadratmeter Mauerwerk beiseite. Wir krochen hindurch. In dem dahinter liegenden Gang betätigte ich einen Hebel, der den Quader wieder in seine ursprüngliche Position brachte.
    Lucy sah sich in dem kleinen Raum um, in dem wir uns befanden. Er war leer bis auf eine Metallkiste, aus der ich zwei Taschenlampen holte. Eine gab ich Lucy.
    »Folge mir.« Ich öffnete per Fingerabdruckscanner eine weitere Geheimtür und betrat einen schmalen Gang, dessen Treppen nach unten ins Dunkel führten: »Wir gehen jetzt gleich unter dem
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