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Animus

Animus

Titel: Animus
Autoren: Marina Heib
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ausgehen, dass die öffentliche Ordnung bald umfassend wiederhergestellt sein wird.«
    Wie in Trance stand ich aus meinem Sessel auf. Pete sah mich nicht an. Ich war froh, dass er mich nicht ansah. Sein Gesicht war versteinert. Ev schien erleichtert zu sein, dass alles wieder gut war. Sie war so jung.
    Fast gleichmütig, als wollte ich nur kurz frischen Kaffee holen, verließ ich das Zimmer. Ich ging in den Garten zum Baum auf dem Hügel, langsam, versunken, mit starrem Blick. Dort setzte ich mich neben das Grab auf die Erde, zog die Beine unter meinen Körper. Ich schaute in den Himmel. Dann betrachtete ich meine Füße. Ich war barfuß. Ich wusste nicht, wieso ich barfuß war.
    »Was machst du?«, fragte Katya.
    »Ich betrachte meine Füße«, sagte ich. »Siehst du die blauen Adern auf der Innenseite? Sie sehen aus wie Flüsse.«
    »Du hast schöne Füße«, sagte Katya.
    »Schau mal das Meer. Es hat die gleiche tiefblaue Farbe wie die Adern meiner Füße.« Ich lachte leise. »Vielleicht schwimmen kleine Fische in mir. Oder Aale. Oder Moränen. Hässliche Fische.«
    Katya gab keine Antwort.
    Ich schaute auf meine Füße. Der linke Fuß zitterte heftig. Ich wusste nicht, warum er das tat. Obwohl es sicher nicht wärmer war als etwa fünf Grad Celsius, war mir nicht kalt.
    »Ich will sterben. Alles ist besser als diese … endlose Nacht. Verstehst du, Katya?«
    »Es gibt nichts zu verstehen«, sagte Katya.
    Ich hob den Kopf und schaute aufs Meer. Das Wasser, das an den Strand rollte, war viel heller als das Wasser weiter draußen. Lapislazuli und Ultramarin. Ich konnte das Meer nicht hören. Dazu war es zu weit weg. Aber ich konnte es sehen. Konnte es riechen. Es roch nach Tang. Und Salz. Gleichmäßig rollten die Wellen in der Ferne heran, bauten sich auf, bis sie brachen und als weiße Gischt auf den Sand geschwemmt wurden, um dann wieder ins Meer zurückzukehren. Ein ewiger Kreislauf.
    Ich hörte ein Räuspern.
    »Ich bin’s«, sagte Ev neben mir. Ich schaute hoch. Ev sah entspannt aus. Sie setzte sich neben mir ins Gras. Ich schaute aufs Meer.
    »Es ist alles wieder gut«, sagte Ev.
    Pete, Marc und Erykah kamen aus dem Haus auf uns zu.
    »Wir müssen aufbrechen«, sagte Marc.
    »Es ist nicht wieder gut«, sagte ich zu Ev. »Die Frau im Fernseher hat gelogen.«
    Pete nickte. »Die Nachrichtensperre dauert anscheinend an. Keine Bilder. Nicht ein einziges. Kein gutes Zeichen. Sie wollen die Bevölkerung ruhig halten. Panik vermeiden. Aber im Internet gibt es private Camcorderaufnahmen. Sieht nicht gut aus. Viele Tote.«
    »Wir müssen los«, sagte Erykah.
    »Ich muss zurück«, sagte ich.
    Erykah schüttelte den Kopf. »Du kannst nichts tun. Das wäre Wahnsinn.«
    »Schmelzer hat mir mal ein deutsches Gedicht vorgetragen. Von Goethe. Es ging um Geister, die man ruft und nicht wieder loswird«, sagte ich.
    »Du kannst nicht zurück, begreif doch! Wie willst du es überhaupt schaffen?«
    Pete sah mich an. »Sie schafft es mit mir. Wir nehmen den Helikopter.«
    Ich nickte Pete dankbar zu.
    Marc zögerte keine zwei Sekunden. Er umarmte Ev. »Du wirst mit Johnny und Erykah per Boot das Land verlassen. Wir sehen uns, wenn Lucy, Pete und ich zurück sind.«
    Ev schrie auf und trommelte mit den Fäusten gegen Marcs Brust, gegen seine Schultern. Sie schlug ihn, so fest sie konnte, und schrie und weinte. Marc hielt ihr die Hände fest.
    Pete widersprach Marc: »Du gehst mit Erykah und Ev. Sie brauchen dich.«
    »Ich habe noch eine Rechnung offen.«
    »Wir werden sie für dich begleichen. Das verspreche ich«, sagte Pete.
    Marc sah in Evs tränenüberströmtes Gesicht und nickte langsam.
    Erykah schaltete sich ein: »Was ist das bloß für ein Schwachsinn! Keiner fährt oder fliegt zurück. Das hat überhaupt keinen Sinn! Warum sind wir nicht gleich dort geblieben und haben uns abknallen lassen? Weil wir überleben wollen!«
    »Alles ist anders«, wandte ich ein.
    »Nein, ist es nicht! Es war dein Plan, du hast ihn gemacht. Halte dich dran!« Erykah wurde langsam wütend.
    »Das stimmt nicht. Nichts stimmt mehr. Ich habe begriffen, dass ich den Plan nicht gemacht habe. Ich bin ein Teil des Plans.«
    Ich las in Erykahs Blick, dass sie aufgab. Sie verstand. Sie würde nicht weiter versuchen, mich umzustimmen.
    Ich umarmte die drei. Auch Pete verabschiedete sich stumm. Wir winkten Johnny zu, der am Bootsanleger seinen Außenbordmotor überprüfte. Dann gingen wir zum Helikopter.

53. Washington
    Pete, 36, Geheimagent
    Wir
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