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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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doch selbst der Schütze war, lag auch an der Situation, am Affekt. Mein Vater hat mir die Pistole zugeschoben, und dann gab es keine Überlegungen mehr, nur noch den Willen zur Tat, aus der Überraschung heraus. Ich war ihm jetzt böse, böse, dass er mich da reingezogen hatte, aber das dauerte nur ein paar Schritte, bis mir wieder klar war, dass ich ihn da reingezogen hatte, dass er meinem Plan gefolgt ist, außer, dass er nicht der Schütze sein wollte, sondern nur der, der für den Schützen gehalten wird. Sein gutes Recht. Macht das Papas Opfer nicht noch größer, dass er für eine Tat, die er nicht begangen hatte, ein Leben im Gefängnis auf sich nahm? Für mich.
    Ich stürmte nun schon seit einer Stunde den Berg hinauf, vor mir Santnerspitze und Euringerspitze, die sich steil und böse in den Himmel bohrten. Es gab keine Bäume mehr, nur noch Gras und Geröll, ich schwitzte stark, es dämmerte bereits, aber ich lief weiter. Ich hatte ein gutes Gefühl, trotz dieser Gedanken, von denen einige Krötengedanken waren, aber das Massiv hielt das aus, hielt mich aus, ich durfte hier sein, durfte hier als Mörder sein, als Totschläger, um es genau zu sagen, aber so viel ändert das nicht, da es für mich nicht darauf ankommt, wie lang die Haftstrafe ist. Ich marschierte, marschierte, ein Freund des Rechtsstaats im Gebirge, ein falscher Freund, der dem Rechtsstaat zuwidergehandelt hat, obwohl es keine Ausnahmen geben darf. Der Rechtsstaat ist totalitär, das ist eigentlich klar, wurde mir aber erst jetzt richtig bewusst, da ich nach einem Schlupfloch für mich suchte. Es gibt keines, ein Rechtsstaat muss unerbittlich sein, die Ausnahme zerstört ihn, er kann nur als Totalität existieren. Aber er ächtet den Täter nicht auf alle Zeit, er bestraft ihn, und ist die Strafe verbüßt, ist der Täter entlastet. Doch diesen Weg gibt es nicht für mich, da ich mich der Strafe nicht stelle, die Verantwortung nicht übernehme. Keine Erleichterung, nur harte, mich ewig beschämende Schuld. Das dachte ich, als ich merkte, dass es nahezu dunkel war. Ich erschrak, hatte nun Angst vor den Bergen, aber dann war es mir egal, in welcher Lage ich mich wiederfand, ich war sogar enttäuscht, dass es so schlecht nicht aussah. Da ich immer nur vorwärtsgerannt und nie abgebogen war, musste es ein Leichtes sein, zum Gasthof zurückzufinden. Ich machte kehrt und lief durch die Dunkelheit den Berg hinab. Ich stürzte mehrmals, aus Erschöpfung und weil ich keine Bergschuhe trug, sondern Laufschuhe, die nicht genug Halt fanden, ich zog mir Prellungen zu und einen Kratzer im Gesicht und ärgerte mich über meine städtische Torheit, diesen Ausflug so schlecht getimt zu haben, so schlecht ausgerüstet zu sein, aber mein Leben war nicht in Gefahr, und ein Teil von mir fand das bedauerlich. Den Gasthof habe ich sicher erreicht. Ich war so erschöpft, dass ich mich in meinen Sachen aufs Bett legte und sofort einschlief.
    Am nächsten Morgen sah ich im Spiegel die Schürfwunde auf meiner rechten Wange, feine Striche, rot verkrustet, das Gesicht eines Mörders, dachte ich im ersten Moment, aber warum soll ein Mörder so aussehen? Ich fuhr mit dem Bus nach Brixen, kaufte mir Wanderstiefel, eine Karte, ein Messer, einen Rucksack und eine Brotzeitdose, eine Taschenlampe und eine Fleecejacke, es war kälter, als ich gedacht hatte. Mittags zog ich wieder los. Über mir wogte ein wüster Himmel, zerfledderte Wolken, grau und blau und dunkelgrau, in wilder, turbulenter Jagd. Im Wesentlichen dachte ich die gleichen Dinge wie gestern. Abends saß ich alleine in der Stube, ich war der einzige Gast, eine alte Frau brachte mir derbes Essen und Bier in Flaschen. Die Möbel waren aus Holz, das fast schwarz war, an einer Wand hing ein Kreuz, an einer anderen eine Scheibe, die man aus einem Baumstamm geschnitten hatte. Alle meine Habe Gottesgabe, stand auf der Scheibe. In einer Ecke bollerte ein Ofen aus grünen Kacheln. Wenn ich nahe daran saß, begann ich bald zu schwitzen, wenn ich wegrückte, fror ich im Nu. So rutschte ich hin und her, während ich versuchte, mich auf einen Roman zu konzentrieren. Als die Alte abräumte, sagte sie kein Wort, und das war mir recht.
    Weil ich am folgenden Tag um fünf Uhr wach war, ging ich in den Stall und sah zu, wie die Alte und ihr Mann die Kühe melkten. Nach dem Frühstück lief ich wieder los. Ich erwog, mich zu stellen, die Strafe, die ich verdient hatte, anzunehmen und Buße zu tun. Aber was wäre damit gewonnen? Meine
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