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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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Kinder würden ihren Vater verlieren, meine Frau ihren Mann und alle drei das Einkommen, von dem sie lebten. Sie würden die Wohnung verkaufen müssen und wären womöglich trotzdem überschuldet. Und ob mein Vater freikäme, war ungewiss. Er hatte die Tatwaffe geliefert und war Komplize, er würde nicht ohne Strafe davonkommen. Ich könnte zwar endlich büßen für die Tat, die ich begangen hatte, aber in meiner Situation würde das ein egoistischer Akt sein. Meiner Seele wäre vielleicht geholfen, meine Familie hätte den Schaden, und mein Vater ist da, wo er ist, weil er das alles genauso sieht wie ich. Die Gummisohlen meiner Stiefel knirschten auf dem Geröll, ich hörte meinen Atem, sonst nichts, es regnete leicht, ich fühlte mich richtig zwischen diesen Bergen.
    Jeden Tag lief ich so durch die herbstliche Landschaft. Mein Handy ließ ich im Gasthof und hörte es ab, wenn ich am späten Nachmittag zurück war. Ein paar geschäftliche Anrufe und immer meine Frau und die Kinder. Am zweiten oder dritten Tag meldete ich mich nicht mehr bei meinen Geschäftspartnern, dann rief ich auch meine Familie nicht mehr an. Ich ging morgens in den Stall und sah beim Melken zu, hätte gerne geholfen, aber die beiden Alten lehnten diesen Vorschlag ab. Sobald es hell war, zog ich los ins Massiv, egal, wie das Wetter war. Ich ging stramm, traf auf niemanden und setzte mich, wenn ich hungrig war, zur Brotzeit auf einen Baumstamm. Ich kaute Kaminwurzen, aß eine Semmel dazu, trank Milch und zog weiter. Meine Gedanken landeten jetzt oft bei Herrn Tiberius, den ich durch den Mord, den Totschlag hatte loswerden wollen, der mir jetzt aber als Gespenst im Nacken hockte. Ich verglich sein Leben mit meinem, verglich unsere Väter, die wohl den Unterschied gemacht hatten. Seiner war gegangen, meiner war geblieben, war verschroben, aber war da. Das Bleiben ist eine große Sache, dachte ich im Massiv, weil das Gehen eine große Sache ist. Ich schwor mir gerührt, niemals zu gehen, aber das war nur eine weitere von diesen beschissenen Selbstgefälligkeiten. Ich fragte mich auch, ob ich am Ende geschossen hatte, weil ich aus diesem Elternhaus kam, in dem einem das Schießen geradezu in die Wiege gelegt wurde. Siehst du, also doch die Gene, würde Rebecca sagen. Nein, würde ich erwidern, nicht die Gene, mein Vater hat niemanden erschossen, eine solche Tat liegt nicht in ihm drin, er ist kein Mörder, er kann das nicht, will das nicht, er ist ein harmloser Mann. Das war ich selbst, würde ich fortfahren, ich hatte die Wahl, und ich habe mich so entschieden.
    Aber ich sprach gar nicht mehr mit Rebecca. Ich lag nachmittags auf dem Bett, das zu kurz war für mich, grübelte, und wenn das Handy klingelte, schaute ich auf dem Display, wer anrief, ging aber nicht dran. Ich stellte auf stumm, schlief ein, wachte wieder auf und sah, wie sich das Handy vibrierend auf dem Nachttisch bewegte. Ich richtete mich auf, sah, dass es Rebecca war, und legte mich wieder hin. Das Handy kroch wie ein verletztes Tier auf die Kante zu, ich wollte es nehmen, war aber wie gelähmt, unfähig, das Gerät zu ergreifen, in das ich würde sprechen müssen, ohne sagen zu können, was ich sagen musste. Das Handy fiel zu Boden, ich hörte es noch zweimal vibrieren, dann war Ruhe. Ich lag im Bett, bis es Zeit für das Abendessen war. Ob ich länger bleiben könne als die geplante Woche, fragte ich die Alte. Es war kein Problem. Das Wetter wurde schlechter, Stürme, erster Schnee. Ich ging trotzdem jeden Tag hinaus, und wenn es nur für eine Stunde war, sonst lag ich im Bett oder trieb mich auf dem Hof und im Stall herum. Als ich am zehnten Tag von einer Wanderung zurückkam, saß Rebecca in der Stube. Randolphrandolphrandolph, sagte sie, ich verstehe, dass es dir schlechtgeht, aber wir brauchen dich zu Hause.
    Am nächsten Tag flog ich mit ihr zurück nach Berlin. Ich hatte ein bisschen Angst, dass ich wieder auf die Idee kommen würde, ich könne mich dieser überreizten Stadt nicht zumuten, aber so war es nicht. Die ersten Tage kam ich leidlich klar, und dann war Berlin wieder meine Stadt. Von da an begann unsere Normalität, die Normalität nach Tiberius.
    Was aber noch fehlt, sind die Sätze, die ich sagen muss. Ich bin so weit. Ich habe nur noch nicht entschieden, ob ich Rebecca diesen Bericht gebe oder ob ich mit ihr rede, bei einem Spaziergang mit unserem Hund. Es ist wohl kein so großer Unterschied, Hauptsache, sie erfährt bald, mit wem sie lebt. Ich habe mir
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