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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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artikulierte keine Wörter, sie schrie einfach, mit schriller Stimme, erst sitzend, dann stehend. Alle starrten sie an, und die Richterin fragte, was los sei, bekam jedoch keine Antwort. Rebecca schrie weiter. Der Saaldiener näherte sich, um sie hinauszuführen, aber das ließ ich nicht zu. Rebecca, sagte ich besänftigend, setz dich zu mir. Sie hörte auf zu schreien, setzte sich und hörte apathisch zu, wie der Psychologe fortfuhr. Wenn ich mir eine Bemerkung zum Motiv erlauben darf, sagte er, würde ich das gerne tun. Darf ich, fragte er, etwas prätentiös. Bitte, sagte die Vorsitzende Richterin. Tiberius, erläuterte der Psychologe, hat das ganze Theater veranstaltet, um Frau Tiefenthaler in den Zustand des Zorns zu versetzen, er wollte ihre wütenden Schreie hören, weil ihn das erregte. Kann man eine Mutter mehr in Rage versetzen, als sie des sexuellen Missbrauchs ihrer Kinder zu beschuldigen? Nachdem der Psychologe diese Frage gestellt hatte, war es sehr still im Saal.
    Rebecca hatte das sofort verstanden. Ich wusste, wie sie sich jetzt fühlte, weil ich mich ähnlich fühlte. Noch einmal beschmutzt und jetzt auch missbraucht. Herr Tiberius hatte ein raffiniertes Spiel mit uns getrieben, und wir waren darauf reingefallen. Er kannte ihre Reizbarkeit, hatte ihre Ausbrüche im Souterrain verfolgt und trieb sie mit seinen Dreistigkeiten und Anschuldigungen in den Zustand, in dem er sie haben wollte. Er hat mich vergewaltigt, sagte Rebecca leise zu mir, nein, stimmt gar nicht, er hatte Sex mit mir, und ich habe mitgemacht. Ich nahm sie in den Arm, irgendwie ein betrogener Mann, der seiner Frau aber nicht böse sein kann, weil sie nicht schuldig ist am Betrug. Ringsum sah ich nun mitleidige Blicke von den Zuhörern. Die Stimmung im Saal war wieder auf unsere Seite gekippt.
    Der Prozess ging ohne weitere Zwischenfälle zu Ende. Der Staatsanwalt hatte sich nicht umstimmen lassen, er plädierte am zweiten Verhandlungstag auf Mord. Es sei zu würdigen, sagte er, dass mein Vater seiner Familie aus einer Not habe helfen wollen, es gereiche ihm dabei aber erheblich zum Nachteil, dass er «mit der planmäßigen und auch für ihn ersichtlich rechtswidrigen Tötung eines anderen das schwerste denkbare Delikt im Wege der Selbstjustiz verwirklicht hat, und dies auch noch, obwohl er gar kein unmittelbar Betroffener des Stalkings gewesen ist und unter Umständen auch ein Umzug der Betroffenen eine erwägenswerte Lösung sein musste». Das Mordmerkmal der Heimtücke sei erfüllt, weil das Opfer arg- und wehrlos gewesen sei, also mit einem solchen Angriff des Angeklagten nicht gerechnet habe, nicht habe rechnen können und auch keine geeignete Abwehrmöglichkeit oder realistische Fluchtmöglichkeit gehabt habe. Der Staatsanwalt schloss damit, dass das Gesetz ihm keine andere Wahl lasse, als eine lebenslängliche Freiheitsstrafe zu fordern, auch wenn das bedeute, dass der Angeklagte frühestens nach fünfzehn Jahren freikommen könne, in Anbetracht seines Alters sei das eine besondere, aber eben unvermeidliche Härte.
    Unser Anwalt plädierte auf Totschlag und ein Strafmaß von sechs Jahren. Er sprach vor allem über die Notlage der Familie. Die Argumente muss ich hier nicht mehr ausführen. Das Gericht schloss sich unserer Auffassung an, erkannte auf Totschlag, ging aber zwei Jahre über den Antrag der Verteidigung hinaus. Acht Jahre, Entlassung frühestens nach vier Jahren, offener Vollzug nach ein bis zwei Jahren, wenn die Strafvollzugskammer einwilligt. Wir warten auf ihre Entscheidung.

Papa? Ich war heute wieder dort. Mein Vater antwortete nicht, dämmerte wieder vor sich hin. Die Kinder waren bei mir, einmal im Monat begleiten sie mich, zunächst hatten wir einen Rhythmus von vierzehn Tagen, aber mit Kindern ist es schwierig im Gefängnis. Am Anfang haben sie geweint, weil sie dachten, dass die schweren Gittertüren, die sich hinter ihnen schlossen, nie mehr aufgehen würden. Mit der Zeit wurden sie sicherer und tobten durch die Gänge, und ich habe sie ständig ermahnt, leise zu sein, bis mir einfiel, dass es eigentlich keinen Grund gibt, in einem Gefängnis leise zu sein. Dann begann die Langeweile. Auch heute haben sie sich gelangweilt, obwohl sie ihre Malsachen dabeihatten. Sie teilten sich den Besucherstuhl und malten Landschaften mit Tieren, während ich mit Herrn Kottke redete. Manchmal hoben sie den Kopf, um zu sehen, was der Opa macht. Er saß da, in sich versunken, und sagte nichts. Er ist ihnen unheimlich, das
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