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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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Mickel geführt würden, und man müsse damit rechnen, ihnen zu begegnen, er wisse, dass sie noch immer wütend auf ihn seien. Wir gingen in ein Wirtshaus gegenüber dem Gericht, und noch ehe die belegten Brötchen und der Kaffee da waren, sagte mein Bruder in einem bösen, fast verletzenden Ton zu mir: Warum hast du Papa da reingezogen, warum hast du es nicht selbst gemacht? Ich sagte, dass ich ihn da nicht reingezogen habe, dass ich nie mit unserem Vater über einen Mord geredet habe, dass ich überhaupt nicht mit ihm geredet habe in jener Zeit, du kennst ihn ja, sagte ich. Hör auf, mich zu verscheißern, sagte mein kleiner Bruder, wir wissen beide, dass du ihn da reingezogen hast. Ich widersprach nur noch schwach. Warum warst du nicht Manns genug, das selbst zu regeln, fragte er, wieder in diesem bösen Ton. Ich sagte, dass dies die beste Lösung für die Familie ist. Hätte ich es gemacht, wäre der Ernährer für Paul, Fee und Rebecca weggefallen, und nicht nur der Ernährer, sondern auch der Vater, der Gefährte. Auch sie wären dann vaterlos aufgewachsen. Wieso auch sie, zischte mein Bruder und betonte das Wort «auch». So wie wir, sagte ich. Er sei nicht vaterlos aufgewachsen, hörte ich dann. Brunos Ton war nicht mehr böse, sondern patzig. Unser Vater hat nie etwas für mich getan, sagte ich, jetzt gab es für ihn die Möglichkeit, etwas für mich zu tun, und er hat sie genutzt. Feigling, sagte mein Bruder, nun wieder böse und laut. Am Nachbartisch saßen Richter oder Anwälte in ihren Roben, ein paar drehten sich um, mein kleiner Bruder zeigte ihnen den Mittelfinger. Rebecca legte eine Hand auf Brunos Unterarm und sagte: Schscht. Unser Essen kam, wir aßen schweigend, bis mein kleiner Bruder anfing, zu erzählen, was er in China erlebt hatte. Dann begann der zweite Teil des ersten Verhandlungstages.
    Die Vielzahl der Waffen meines Vaters spielte im Prozess eine große Rolle. Der Staatsanwalt nahm das zunächst als Beleg für «ein gewaltbereites Gemüt», aber dann redete ein Psychologe, der als Sachverständiger eingeladen war und der auf mich einen ausgezeichneten Eindruck machte. Er schilderte meinen Vater als einen etwas skurrilen Mann, aber nicht als Narren, sondern als einen, der «aufgrund unbewältigter, sogar geleugneter Kriegstraumata ein überdimensioniertes Sicherheitsbedürfnis hat, begleitet von einer Gewaltlust, die jedoch nicht nach Erfüllung strebt». Mein Vater könne «seine Tötungsphantasien, die ja bei sehr vielen Menschen vorkommen, problemlos in seinem Kopf behalten», sei aber «im Zustand absoluter Hilflosigkeit durchaus gefährlich, weil er das oft Durchdachte nur noch nachspielen muss und ihm die Ängste die letzten Hemmungen nehmen». Die Nöte seiner Familie hätten ihn in diesen Zustand versetzt, das sei der «Trigger» gewesen, der «die Gewaltbereitschaft aus der Kopfwelt von Hermann Tiefenthaler in die Realität überführt» habe. Ob das alles so stimmte, wusste ich nicht, es klang aber auf eine verquaste Weise gut und befreite meinen Vater vom Stigma des «gewaltbereiten Gemüts».
    Die Richterin kündigte an, den ersten Prozesstag nun beenden zu wollen, doch unser Anwalt bat darum, noch einen sachverständigen Zeugen zu hören. Ich war überrascht, das war nicht abgesprochen. Auch die Richterin schien nicht erfreut, so überfallen zu werden. Der Anwalt sagte, in der Pause habe ihn ein Mann angesprochen, ein Psychologe, der in der Zeitung von diesem Prozess gelesen habe und gekommen sei, um zuzuhören, weil er den Tiberius gekannt habe. Er habe einmal ein Gutachten über ihn schreiben müssen. Das interessierte nun auch die Richterin, und der Staatsanwalt war ebenfalls einverstanden, den Psychologen als sachverständigen Zeugen zu hören. Mich machte dieser Auftritt nervös, weil ich das Gefühl hatte, der Prozess sei bislang gut gelaufen für uns, vor allem hatte sich meine größte Sorge nicht erfüllt: es könne der Eindruck entstehen, Herr Tiberius sei Opfer eines sozialen Konflikts geworden, eines Konflikts zwischen Arm und Reich, und wir wären die bösen Reichen, die einem Armen seinen Platz in der Gesellschaft streitig gemacht hätten. Der Psychologe sah aus, als könne er diese Richtung einschlagen. Er trug eine verbeulte Cordhose und ein kariertes Sakko, das an den Ellbogen mit Leder besetzt war. Um seinen Hals hing eine Lesebrille. Nun erzählen Sie mal, sagte die Richterin, nachdem sich der Psychologe auf den Zeugenstuhl gesetzt und vorgestellt hatte. Ich
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