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Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)

Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)

Titel: Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)
Autoren: Annelie Wendeberg
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Sommer 1889

    ines der ersten Dinge, die ich als Erwachsene lernte, war, dass Wissen und Fakten bedeutungslos werden, setzt man Menschen einer guten Dosis Angst und Vorurteilen aus.
    Diese Einfältigkeit beunruhigte mich an meinen zweibeinigen Mit-Kreaturen am meisten. Dennoch gehörte ich, laut Alfred Russel Wallaces neuesten Theorien, genau jener Spezies an – der einzigen unter den Menschenaffen mit aufrechtem Gang und ungewöhnlich großem Hirn. Und da mir keine anderen aufrecht gehenden, großköpfigen Affen bekannt waren, musste ich wohl ein Mensch sein. Aber ich hatte so meine Zweifel.
    Mein Arbeitsplatz, die Abteilung für Infektionskrankheiten am Guy’s Hospital in London, war ein Paradebeispiel vorgenannter menschlicher Vorurteile. Beim Durchschreiten des eleganten, schmiedeeisernen Tores zeigten sich die Besucher begeistert. Verzückung ergriff sie, wenn sie das Krankenhausgelände mit dem großzügigen Hof, den gepflegten Rasenflächen, den Blumen und Büschen erblickten. Die weiß gerahmten Fenster, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten, erweckten den Eindruck, als handele es sich um eine Oase für Kranke.
    Doch selbst dem ungeschulten Auge konnte die deutliche Überbelegung nicht verborgen bleiben: In jedem der vierzig Betten meiner Station lagen zwei bis drei Patienten, miteinander verklebt durch Körperflüssigkeiten, die aus infizierten Wunden oder Körperöffnungen sickerten. Aufgrund des chronischen Platzmangels missachteten Ärzte und Krankenschwestern, was sie über Krankheitsübertragungen auf engstem Raum gelernt hatten: dass der Tod sich ausbreitet wie ein Feuer im trockenen Nadelwald.
    Dennoch hielt jeder die Gegebenheiten für akzeptabel, denn man kannte es ja nicht anders. Die geringste Veränderung hätte Anstrengung und Nachdenken erfordert. Deutlich zu viel Einsatz, wenn es nicht um einen selbst ging. Darum blieb alles beim Alten.
    Wäre mein Temperament noch aufbrausender, als es ohnehin schon war, hätte ich das Krankenhauspersonal öffentlich für den Tod unzähliger Patienten verantwortlich gemacht. Patienten, denen es an hinreichender Pflege und Hygiene mangelte. Allerdings trugen auch diejenigen Schuld, die uns ihre kranken Angehörigen anvertraut hatten. Es war allgemein bekannt, dass die Sterberate bei Krankenhauspatienten doppelt so hoch war wie bei denen, die zu Hause blieben. Manchmal fragte ich mich, wie die Leute überhaupt auf die Idee kamen, Ärzte um Hilfe zu bitten.
     
    Bisweilen erlaubten es die Umstände, Krankheiten zu heilen. Doch jener sonnige Samstag stellte in dieser Hinsicht nichts dergleichen in Aussicht.
    Das Telegramm, das mir eine Krankenschwester aushändigte, ließ Komplikationen erwarten:
    An Dr. Kronberg. Brauchen Ihre Unterstützung. Möglicher Fall von Cholera in den Hampton-Wasserwerken. Kommen Sie sofort. Inspektor Gibson, Scotland Yard.

    ch war Bakteriologe und Epidemiologe, der Beste, den man in England finden konnte – was in erster Linie dem Mangel an Spezialisten auf diesem neuen Forschungsgebiet zuzuschreiben war. In ganz London gab es nur drei – von denen zwei meine Studenten gewesen waren. Bei sämtlichen Choleratoten oder anderen Opfern angriffslustiger Keime in und um London wurde ich hinzugebeten.
    Diese Fälle traten mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, und somit hatte ich häufiger das Vergnügen, mit Kriminalinspektoren der Metropolitan Police zusammenzuarbeiten. Es war ein gut gemischter Haufen Männer, deren geistige Schärfe zwischen der eines Buttermessers und der einer überreifen Pflaume variierte.
    Inspektor Gibson gehörte zur Pflaumenkategorie. Die Buttermesser, fünfzehn an der Zahl, waren zur Mordkommission abkommandiert worden – eine Umstrukturierungsmaßnahme innerhalb Scotland Yards wegen der zurückliegenden Morde in Whitechapel und der Jagd nach dem Täter, allseits bekannt als Jack the Ripper.
    Ich schob das Telegramm in die Hosentasche und bat die Krankenschwester, eine Droschke zu rufen. Dann rannte ich in den Keller, wo sich mein Labor und das Loch in der Wand, das ich mein Büro nennen durfte, befanden. Ich warf ein paar Dinge in meine Arzttasche und eilte zum Ausgang.

    ie holprige Fahrt zu den Hampton-Wasserwerken war ein Vergnügen. Sie bot Anblicke, die London längst nicht mehr bereithielt: sattgrüne Wiesen, frische Luft und bisweilen ein Aufblitzen des Flusses, der hier immer noch die Fähigkeit besaß, Sonnenlicht zu reflektieren. Wenn die Themse erst die Stadt erreicht hatte, verwandelte
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