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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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beugte mich vor, um besser hören zu können, auch Rebecca neben mir wirkte angespannt.
    Er habe Dieter Tiberius kennengelernt, als dieser achtundzwanzig Jahre alt gewesen sei. Das Sozialamt habe ihn geschickt, da Tiberius sich wegen schwerer Depressionen für arbeitsunfähig erklärt hätte. Man wollte wissen, ob das stimmt. Ich habe mehrere Interviews mit ihm gemacht, sagte der Psychologe, Dieter Tiberius stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie, die nicht wirklich arm war, aber auch nicht wohlhabend. Der Vater habe die Familie früh verlassen, und zwar ganz, kein Kontakt zu seinem Sohn, obwohl der darum gebettelt habe, kein Unterhalt, obwohl der Vater später als Vertreter für Elektrowaren gut gestellt war. Die Mutter schaffte es nicht, zugleich zu arbeiten und ihren Sohn liebevoll zu versorgen. Sie schlug ihn oft, sperrte ihn aus, zunächst für Stunden, dann ganze Tage und auch mal eine Nacht. Häufige Besuche vom Jugendamt, bis die Mutter aufgab und ihren Sohn ins Kinderheim steckte. Da war er neun Jahre alt. Im Heim, berichtete der Psychologe, wurde Tiberius, der damals schon dick war, das bevorzugte Opfer der älteren Jungs, auch wegen seiner überdurchschnittlichen Intelligenz. Tiberius war klug, sagte der Psychologe. Er schilderte ausführlich und lebhaft, was Herrn Tiberius widerfahren war. Demütigungen, Schläge, sexueller Missbrauch, einmal habe er sich seine Zähne mit dem eigenen Kot putzen müssen. Ich gestehe, dass ich diesen Bericht nicht mit Mitleid verfolgt habe, sondern mit Sorge. Ich hörte Seufzen im Saal, und ich fragte mich, wie die drei Richter und die beiden Schöffen auf das Leid des Herrn Tiberius reagieren würden.
    Als Dieter Tiberius zwanzig war, fuhr der Psychologe fort, schien er sich von seiner schwierigen Herkunft befreien zu können, machte das Abitur nach, ließ sich zum Informatiker ausbilden und fand einen Job, den er mochte. Mit fünfundzwanzig allerdings kündigte er und zog sich ganz aus der Gesellschaft zurück. Dieter Tiberius sei tatsächlich schwer depressiv gewesen, die «multiplen Traumata» seiner Kindheit und Jugend hätten bei ihm zu einer übersteigerten Indolenz geführt, sagte der Psychologe. Was das denn sei, wollte die Vorsitzende Richterin wissen. Trägheit, Lähmung, sagte der Psychologe.
    Der Staatsanwalt fragte, ob Dieter Tiberius pädophile Neigungen gezeigt habe. Meine Frau nahm meine Hand, ich glaube, dass wir beide die Luft anhielten, jetzt würden wir erfahren, welcher Bedrohung wir in Wahrheit ausgesetzt gewesen waren. Früher hatte ich gehofft, einer kleinen Bedrohung, jetzt hoffte ich auf eine große. Es war vorbei, uns konnte nichts mehr passieren, es ging nur noch darum, dass der Schuss gerechtfertigt schien. Eindeutig nein, sagte der Gutachter. Ich war entsetzt. Herr Tiberius wirkte damit nicht mehr wie ein Mann, der den Tod verdient hatte, wenn man das überhaupt so sagen kann. Ob der Tiberius ein gewalttätiger Mensch gewesen sei, fragte der Staatsanwalt. Eindeutig nein, sagte der Gutachter noch einmal, mit der Freude eines Mannes, der etwas Überraschendes äußern kann. Ein paar Leute im Publikum raunten. Ich konnte das nicht glauben, das war unmöglich, er hatte uns so viel Gewalt angetan, wir hatten so gelitten. Da sollte er nicht gewalttätig veranlagt gewesen sein? Die Rechtfertigung unserer Tat wirkte in diesem Moment dünn, selbst auf mich. Ich habe nicht in Zweifel gezogen, dass wir Schuld auf uns geladen haben durch den Tod des Herrn Tiberius, rechnete das aber auf gegen die Schuld, die ich auf mich geladen hätte, wäre meinen Kindern oder meiner Frau etwas geschehen. Dieser Zusammenhang wurde in diesem Moment brüchig. Sie waren nicht bedroht gewesen, ich hatte nur angenommen, dass sie bedroht seien. Auch das zählt, hat aber nicht die Wucht des Realen. Der Anwalt meines Vaters griff nun ein, zählte auf, was Herr Tiberius uns angetan hatte, und sagte zum Schluss: Das ist doch das Profil eines Gewaltmenschen. Im Gegenteil, sagte der Psychologe, Dieter Tiberius hatte masochistische Neigungen. Wieder hörte ich ein Raunen im Publikum. Können Sie das näher ausführen, fragte unser Anwalt. Gerne, sagte der Psychologe: Nichts hat Dieter Tiberius sexuell mehr erregt als zornige Frauen.
    In diesem Moment hörte ich einen Schrei, wie ich ihn noch nie gehört habe, nicht davor und nicht danach. Dieser Schrei detonierte schmerzhaft in meinem rechten Trommelfell, denn rechts von mir saß meine Frau, und sie war es, die so schrie. Sie
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