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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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solcher Ort Teil der Familienwelt geworden ist. Für uns gilt das nun, mein Vater, um es klar zu sagen, sitzt im Gefängnis. Mit siebenundsiebzig Jahren ist er dorthinein gekommen, einen Geburtstag hat er schon als Insasse erlebt, von feiern will ich nicht reden. Wir haben uns bemüht, ihm eine festliche Stunde zu bereiten, aber es war kein Erfolg. Es lag nicht so sehr an den angeschraubten Stühlen und dem metallenen Tisch, auch nicht am vergitterten Fenster, das ebenfalls allzu deutlich macht, dass dies kein heimeliger Ort ist, kein passender Ort, um die Tatsache des eigenen Lebens zu feiern. Es lag an mir.
    Die erste halbe Stunde war uns ganz gut gelungen, wir hatten «Happy Birthday» angestimmt, ich, meine Frau Rebecca, unsere Kinder Paul und Fee, meine Mutter und Herr Kottke, der für diesen Tag einige Ausnahmen genehmigt hatte. Wir aßen den Bienenstich, den meine Mutter nahezu ein Leben lang für ihren Mann gebacken hat und den sie nach alter Gewohnheit als Ganzes auf einem Blech präsentieren wollte, weil ihr das Anschneiden vor aller Augen immer eine Freude ist, die Zeit der allgemeinen Freude auf den nahen Genuss. Aber so weit gingen die Ausnahmen nicht. Als wir an der Pforte durchsucht wurden, musste meine arme Mutter, meine fünfundsiebzigjährige Mutter zusehen, wie ein Justizvollzugsbeamter den Bienenstich in kleine Stücke schnitt. Aber ich habe nun wirklich keine Feile hineingebacken, sagte sie mit einer erzwungenen Munterkeit, die mich traurig machte. Wahrscheinlich hat man ihr geglaubt, aber es gibt halt Vorschriften. Ich hasse diesen Satz, ich hasse es, darauf hingewiesen zu werden, dass es Vorschriften gibt, die das Vernünftige unterbinden. Aber ich höre diesen Satz oft, seitdem mein Vater im Gefängnis sitzt.
    Wir redeten über andere Geburtstage meines Vaters, Geburtstage in Freiheit, und dabei musste ich plötzlich schluchzen, ganz unvermutet, und ich dachte erst, dass ich das stoppen könne, ich kämpfte gegen das Schluchzen an, aber es wurde stärker, bis ich haltlos weinte. Ich habe genau mitbekommen, wie auf dieses Weinen in der Besucherzelle reagiert wurde. Meine Kinder starrten mich entsetzt an, so hatten sie ihren Vater noch nie gesehen, Herr Kottke, der Gute, schaute betreten weg, meine Mutter, die auf einem der festgeschraubten Stühle saß, stand auf und kam auf mich zu, aber meine Frau war als Erste bei mir und nahm mich in den Arm. Ich weinte an ihrer Schulter, und als ich die Augen öffnete, traf mein verschwommener Blick den Blick meines Vaters. Was ich sah, kann ich nur Interesse nennen. Er betrachtete seinen Sohn mit einem eigenartigen Interesse, für das mir die Deutung fehlt. Ich habe seither oft darüber nachgedacht, aber mir fällt nichts ein, womit ich diesen Blick erklären könnte. Nach fünf Minuten war der Anfall vorbei, meine Mutter reichte mir eine Papierserviette, ich entschuldigte mich, erinnerte rasch und viel zu munter an einen weiteren Geburtstag meines Vaters, aber jetzt war es nur noch ein Versuch, die Uhr zu beschleunigen. Ich wollte raus hier, alle wollten raus.
    Ich sollte das so nicht schreiben, man kommt in Teufels Küche mit solchen Sätzen, wenn der eigene Vater im Gefängnis sitzt. Wenn einer rausmusste, dann mein Vater, aber er konnte nicht raus, während wir um kurz vor sechzehn Uhr den übriggebliebenen Bienenstich vom Kuchenblech auf zwei Pappteller hoben, einen für meinen Vater, einen für Herrn Kottke und seine Kollegen. Dann herzten wir den Vater, Schwiegervater, Opa, Ehemann und gingen, nicht ohne Herrn Kottke Dank zu sagen. Mein Vater blieb. Er hat acht Jahre bekommen. Das halbe Jahr Untersuchungshaft in Moabit wird angerechnet, ein halbes Jahr hat er in der Justizvollzugsanstalt Tegel abgesessen, bleiben sieben Jahre. Wenn er sich gut führt, wird er vielleicht in drei, vier Jahren entlassen. Wir rechnen fest damit, dass er sich gut führt, Herr Kottke hat uns wiederholt gesagt, dass es keinen braveren Häftling gibt als meinen Vater, das nährt unsere Hoffnung. Er kann dann noch ein paar gute Jahre in Freiheit haben, das sage ich so auch meiner Mutter. Wenn er nur nicht dort stirbt, sagt meine Mutter oft und wiederholt den Satz sofort: Wenn er nur nicht dort stirbt. Er ist gesund, er schafft das, sage ich dann.
    Papa? Ich habe noch einmal gefragt, nachdem ich eine Weile mit Herrn Kottke geplaudert hatte. So verbringe ich hier meistens meine Zeit, Herr Kottke und ich reden, das heißt, fast immer redet er, man kann ihn durchaus redselig
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