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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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Leute aus der Pathologie.
    Mein Vater sagte zu Polizeiobermeister Leidinger, dass er den Mieter des Souterrains erschossen habe, dann sagte er nichts mehr. Er war ruhig, die ganze Zeit. Sie legten ihm keine Handschellen an, vielleicht wegen seines Alters, dafür war ich dankbar. Zum Abschied haben wir uns umarmt, und diesmal ist es uns gelungen. Es war eine lange, liebevolle Umarmung, die erste unseres Lebens. Wir klammerten uns aneinander, und dabei hat er etwas gesagt, das vielleicht merkwürdig klingt für Außenstehende. Ich bin so stolz auf dich, hat er gesagt. Man kann das nur verstehen als Schlusssatz, als Bilanz einer Vater-Sohn-Beziehung, bevor der Vater in einer Haftanstalt verschwindet. Er hatte das noch nie gesagt, auch nichts Vergleichbares. Vielleicht wollte er das in dieser Situation sagen, um mir klarzumachen, dass mein Leben in seinen Augen bis zum Auftauchen von Herrn Tiberius gelungen war, absolut gelungen, und dass Herr Tiberius eine Episode in diesem Leben ist, nicht mehr, eine Episode, die jetzt dank eines gutplatzierten Schusses beendet war. Er wollte mir klarmachen, dass er dieses Gelingen mitbekommen hatte, trotz der langen Sprachlosigkeit zwischen uns, und er wollte mich auf meinem Weg bestärken. Deshalb hat er das gesagt, glaube ich.

    Habe ich Tränen in den Augen? Ich denke nicht, es fühlte sich für einen Moment so an, als ich die letzten Sätze aufgeschrieben habe, aber es war ein Irrtum. Ein bisschen Feuchtigkeit vielleicht, ein feuchter Film über den Augen, normal, ganz normal. Ich sitze an meinem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer, es ist kurz nach elf Uhr abends, die Kinder sind natürlich längst im Bett, Rebecca war vor ein paar Minuten da und hat gute Nacht gesagt, ein Kuss dazu, ihre Hand auf meiner Wange. Schreib schön, hat sie in der Tür gesagt, eine für ihre Verhältnisse eher konventionelle Bemerkung. Vielleicht ist sie ein bisschen unsicher, weil sie nicht genau weiß, warum ich diesen Bericht verfasse und was drinstehen wird. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich mir das von der Seele schreiben muss. «Das» ist bei uns der Fall Tiberius. Ich habe meiner Frau damit die Wahrheit gesagt, aber vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Ich habe ihr nicht gesagt, dass noch nicht alles gesagt ist zu diesem Fall, dass noch etwas fehlt. Wir haben selbstverständlich viel darüber geredet, sehr viel, und haben unsere Trauer, unsere Wut und unsere Ängste einander zugemutet. Unsere Ehe, die auch schwierige Zeiten gesehen hat, konnte sich da bewähren und hat sich bewährt. Trotzdem wollen mir manche Worte nicht über die Lippen. Ich war nie ein großer Redner, das Gegenteil zu behaupten, wäre nicht falsch, ich würde es jedenfalls keinem übelnehmen, wenn er es täte. Ich höre lange zu, bevor ich das Wort ergreife, und das Reden vor größeren Gruppen fällt mir nicht leicht, obwohl ich es kann. So schlimm ist es nicht. Ich bin nicht verstockt, ich will nur sagen, dass ich keiner bin, der plaudert, dem die Worte leicht über die Lippen kommen. Reden ist für mich keine Selbstverständlichkeit wie Gehen, sondern eine Anstrengung, die ich aber ohne merkliche Probleme auf mich nehme, manchmal auch gerne. Warum schreibe ich das überhaupt? Hat es damit zu tun, dass Rebecca noch ein paar Sätze fehlen von mir?
    Es ist schön, hier zu sitzen. Es ist jetzt still in unserer Straße, nichts rumpelt über das Kopfsteinpflaster, die Autos meiner Nachbarn, wuchtige, teils gewaltige Autos, stehen an den Bordsteinen wie die kleineren Geschwister der Häuser. Warum sind die Autos so groß geworden in den vergangenen Jahren? Warum sind sie mannshoch oder lang wie Lastwagen oder beides? Wann wird man die Häuser verlassen, weil man in diesen SUVs wunderbar leben kann? Das sind die depressiven Gedanken eines Mannes, der davon lebt, dass Häuser gebaut werden. Ich bin Architekt. Vielleicht sind es auch schon trunkene Gedanken, wobei ich mir vorgenommen habe, dass ich nie mehr als eine halbe Flasche vom herrlichen Black Print trinke, wenn ich an diesem Bericht arbeite. Ein Gläschen ist erst weg, aber 14,5 Prozent Alkohol sind ein Wort.
    Blödsinn, ich bin nicht betrunken, ich schaue aus dem Fenster auf die Laterne, eine Gaslaterne, ein grüner Mast, kerzengerade, leicht verschnörkelt, oben Glas, darüber ein kleines Dach aus Metall und warmes, sanftes Licht. Es gibt den Plan, uns diese Laternen zu nehmen, weil das Gaslicht der Umwelt mehr schade als elektrisches Licht, heißt es. Mag sein. Aber wir
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