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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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nennen, aber das ist gut so, es hilft mir. Die Stille eines Gefängnisses ist mir unerträglich, weil aus dieser Stille fremde, unheimliche Laute in die Besucherzelle dringen. Es sind metallische Geräusche, die ich nicht erklären kann, sie sind nicht metallisch hell, sondern dumpf, erst meinte ich Rhythmen zu hören, als würde geklopft oder gefeilt, aber mit der Zeit erkannte ich, dass ich Opfer meiner Erwartungen geworden war, als müssten in einem Gefängnis immerzu die Geräusche behinderter Kommunikation oder versuchter Fluchten erklingen. Es gab keine Rhythmen, es gab auch kein leises Seufzen, wie ich einmal zu hören gemeint hatte. Es gab nur ungewohnte, unerklärliche Geräusche aus der Tiefe dieses Gebäudes. Mir war lieb, wenn Herr Kottke mit seinem rauen Berliner Akzent diese Klänge überdeckte. Er blickt auf ein langes Schließerleben zurück, über vierzig Jahre im Dienst der Justiz, und kann eine Menge erzählen. In Wahrheit wollte ich so viel nie wissen über die Welt des Verbrechens und der Verbrecher, aber uninteressant ist es nicht, zumal diese Welt vor einiger Zeit in unser Leben eingedrungen ist.
    Herr Kottke schaute bald auf die Uhr. Er hat ein untrügliches Gespür dafür, wann unsere gemeinsame Stunde abgelaufen ist. Wir müssen dann wieder, sagte er wie jedes Mal, und ich war ihm dankbar für diese Formulierung, die so klingt, als müssten sich die beiden von einer schönen Kaffeetafel verabschieden und nach Hause fahren. Für meinen Vater ist dieses Zuhause eine Zelle, das ist die Wahrheit, aber sie verschwindet in Herrn Kottkes gutgewählten Worten. Die Einfühlsamkeit eines Schließers, es gibt sie, wir haben Glück gehabt.
    Während meines Besuchs lehnte Herr Kottke an der Wand, rechts neben dem Fenster. Kaum hatte er jenen Satz gesagt, machte er zwei Schritte durch die Zelle, stand nun neben meinem Vater und berührte ihn mit einer Hand am linken Oberarm. So macht er es immer, es gibt hier eine Menge Rituale, eine Menge Wiederholungen und Gleichförmigkeit. An diesem Ort wirkt die Geste polizeilich, wirkt wie ein Signal, dass ein Fluchtversuch der Mühen nicht wert sei, weil sich Herr Kottke bei aller Freundlichkeit nicht davon abbringen lässt, seine Pflicht zu tun und zuzupacken, falls es nötig wird. Aber ich glaube, dass er aus Fürsorge handelt, er will meinen Vater stützen, obwohl das nicht nötig ist, Papa kann ohne Probleme alleine aufstehen. Er stand auf, so wie ich, wir umarmten uns kurz, das können wir inzwischen, und dann ging er, Herr Kottke an seiner Seite. Mein Vater ist größer als sein Bewacher, knapp eins neunzig gegen gut eins siebzig, schlanke eins neunzig gegen füllige eins siebzig, mein Vater ist noch so schlank, wie ich ihn immer kannte, aber sein Haar hat er verloren, und seine Beine haben sich mit dem Alter stärker nach außen gebogen, das gibt ihm einen schaukelnden Gang, wie bei einem Mann von den Schiffen, aber der war er nie. Autoverkäufer war mein Vater, zunächst Mechaniker, dann Autoverkäufer.
    Nachdem mein Vater die Zelle verlassen hatte, zeigte sich ein anderer Schließer, einer, dessen Namen ich nicht kenne, ebenfalls dick, viele hier sind dick, er schaute nicht freundlich, nur dienstfertig, wir wechselten kein Wort miteinander, als er mich zur Pforte geleitete. Die Straße, endlich, Autos, Vögel, Wind in Bäumen, Leben. Mein Audi blinkte freudig, als ich, noch zwanzig Schritte entfernt, auf den Schlüssel drückte.

    Warum mein Vater im Gefängnis sitzt? Ich muss kein großes Geheimnis daraus machen. Die Justiz nennt ihn einen Totschläger, und dass sie ihn nur mit acht Jahren bestraft hat, liegt an seinem Geständnis und seinen Beweggründen, die dem Gericht nicht so scheußlich erschienen, wie das bei Mördern der Fall ist. Wir haben das Urteil akzeptiert, es ist hart für uns, aber wir können nicht sagen, dass der Gerechtigkeit Schande angetan wurde. Auch mein Vater sieht das so. Natürlich hat er auf ein mildes Urteil gehofft, aber ihm war klar, dass er wegen dieser Tat seine Freiheit einbüßen würde. Ihm war das vorher klar. Von einer spontanen Tat kann nicht die Rede sein, sie war gewollt, geplant, und sie wurde in aller Klarheit ausgeführt. Das Alter meines Vaters spielte im Prozess keine Rolle, er handelte nicht aus Verwirrung oder in senilem Wahn. Es wurde aber beim Strafmaß berücksichtigt, denke ich. Die Richter wollten ihm eine Perspektive geben, dass er seine allerletzten Tage in Freiheit verbringen kann, bei seiner Familie.
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