Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
Vom Netzwerk:
die Waffe genommen und bin ins Souterrain gegangen, neun Stufen durch das Treppenhaus, dann links, durch die Kellertür, weitere elf Stufen hinab, noch einmal links, fünf, sechs Schritte bis zur Tür der Wohnung von Herrn Tiberius. Die Pistole hielt ich auf diesem Weg in der rechten Hand, ich hielt sie nicht steif oder mit Abstand zu meinem Leib, sondern mit einer gewissen Vertrautheit, Selbstverständlichkeit. Für die Dinge, die wir als Kinder eingeübt haben, verlieren wir das Gefühl nicht. Der Holzgriff, ergonomisch gestaltet, schmiegte sich in meine Hand. Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas gedacht zu haben. Ich hatte eine Pistole in der Hand, und ich wollte damit Herrn Tiberius erschießen, es gab keine Zweifel, kein Innehalten. Ich war Wille, nicht Verstand. Als ich geklingelt hatte, dauerte es nicht lange, bis Herr Tiberius die Tür öffnete. Sonst hielt er sich immer versteckt, aber dann waren wir polternd oder schreiend die Treppe hinuntergerannt. Diesmal war ich leise gewesen, er konnte nicht wissen, wer vor seiner Tür stand. Ich hörte seine Schritte, eine Kette wurde zurückgezogen, dann riss er die Tür auf. Ich hob den Arm und schoss Herrn Tiberius in den Kopf. Er stand anderthalb Meter von mir entfernt, und ich wäre nicht der Sohn meines Vaters, würde ich ein Ziel aus dieser Distanz verfehlen. Ich drehte mich um und ging wieder nach oben. Mein Vater stand in der Tür, nahm mir die Waffe ab und trug sie in die Küche, wo er sie mit einem seiner Putzlappen sorgfältig reinigte, damit später im Labor nur seine Fingerabdrücke gefunden würden. Als er fertig war, sagte er, du solltest jetzt die Polizei anrufen. Ich rief die Polizei an, war ein folgsamer Sohn. Wasch dir die Hände, sagte mein Vater, und ich tat auch das. Es dauerte acht Minuten, bis die Beamten bei uns eintrafen. Ich habe den Mieter des Souterrains erschossen, sagte mein Vater zu Polizeiobermeister Leidinger. Das war eine Lüge.
    Ich, Randolph Tiefenthaler, habe den Mieter des Souterrains erschossen. Das ist die Wahrheit.
    Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich in den ersten Tagen nach der Tat wenig darüber nachgedacht, dass ich jetzt ein Mörder bin. Es gab so viel Aufregung, und die Aufregung drehte sich darum, dass mein Vater Herrn Tiberius umgebracht hatte, sodass ich die Rolle einnahm, der genau das zugrunde lag: Mein Vater hatte Herrn Tiberius umgebracht. Wir redeten viel mit unserem Anwalt, wir besuchten meinen Vater in der Untersuchungshaft in Moabit, wir kümmerten uns um meine Mutter, wir kümmerten uns um unsere Kinder, damit die Tat ihres Großvaters sie nicht aus ihrer guten Kindheit riss, die angebliche Tat ihres Großvaters, muss ich sagen, kann ich jetzt sagen, nachdem die Wahrheit endlich heraus ist. Ich war in einer Trance, einer Mein-Vater-hat-Herrn-Tiberius-umgebracht-Trance. Weil alle Welt sich so verhielt, als sei das die Wahrheit, nahm ich es als die Wahrheit an.
    Das funktionierte halbwegs, bis ich mit meiner Frau im Hedin saß. Das war drei Wochen nach der Tat. Ich war nicht mehr alleine in einem Sterne-Restaurant gewesen, seit meine Nase geblutet hatte, und Rebecca und ich waren nie auf die Idee gekommen, gemeinsam hinzugehen, vielleicht weil es Orte aus der dunkleren Zeit unserer Ehe waren, Orte meiner Verirrung. Aber nach drei Wochen sagte ich zu Rebecca, lass uns ins Hedin gehen, lass uns einen schönen Abend haben. Die erste Aufregung hatte sich gelegt, wir sahen, dass mein Vater ganz gut mit seinem Leben in Untersuchungshaft klarkam, wir sahen, dass meine Mutter zwar manchmal verzweifelt war, aber nicht daran zerbrach, wir sahen, dass unsere Kinder nach einer ersten Irritation fröhlich weiterlebten, weiterspielten. Ich reservierte einen Tisch, meine Mutter kam zum Babysitten, und dann saßen wir in diesem großstädtisch-kühlen Raum, blaue Stühle, fein gemasertes Holz, chinesische Vasen in Lindgrün, an der Wand ein großes Bild von Harald Hermann, auf dem pralle, schwarze Müllsäcke aus Müllcontainern quellen. Alles muss gebrochen werden in diesen Zeiten, in meinen Kreisen. Wir genießen das Allerfeinste im Anblick des Abfalls, eines ästhetisierten Abfalls natürlich. Würden Bilder den Geruch des Gezeigten verbreiten, hinge der Hermann nicht im Hedin. Rebecca und ich begannen das Essen ohne Champagner. Wir hatten nicht darüber geredet, aber wir waren uns stillschweigend einig, dass wir diesem Abend nicht den Charakter einer Feier geben wollten. Wir waren froh, dass wir Herrn Tiberius
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher