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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman
Autoren: Neal Stephenson
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R. 3000
    Ich hatte meine Sphär als Hocker benutzt. Nachdem ich mit den Fingerspitzen gegen den Uhrzeigersinn Kreise darauf beschrieben
hatte, schrumpfte sie, bis ich sie in der Hand verschwinden lassen konnte. Meine Kulle hatte sich beim Sitzen verschoben. Ich zog sie hoch und strich die Falten glatt, während ich um Tische, Stühle, Globen und sich langsam vorwärts bewegende Fraas herum rannte. Unter einem steinernen Bogen hindurch gelangte ich ins Skriptorium. In diesem Raum roch es stark nach Tinte. Vielleicht, weil ein alter Fraa und seine beiden Fids mit dem Abschreiben von Büchern beschäftigt waren. Ich fragte mich, wie lange es noch so riechen würde, wenn niemand sie mehr benutzte; hier war eine Menge Tinte verbraucht worden, und der feuchte Geruch danach musste tief in alles eingedrungen sein.
    Am anderen Ende führte ein schmalerer Durchgang zur Alten Bibliothek, einem der ursprünglichen Gebäude, die genau auf dem Klostrum standen. Ihr Steinfußboden, der 2300 Jahre älter war als der der Neuen Bibliothek, war so glatt unter meinen Fußsohlen, dass ich ihn kaum spüren konnte. Ich hätte meinen Weg mit geschlossenen Augen finden können, indem ich meine Füße das in ihn hineingetretene Andenken derer hätte lesen lassen, die vor mir darübergegangen waren.
    Das Klostrum war ein überdachter Gang entlang der äußeren Begrenzungslinie eines rechteckigen Gartens. Nach innen war es nur durch die Reihe von Säulen, die sein Dach hielten, vom Wetter getrennt. Außen war es durch eine Mauer begrenzt, die Öffnungen zu Gebäuden wie der Alten Bibliothek, dem Refektorium und verschiedenen Schreibsälen aufwies.
    Jeder Gegenstand, an dem ich vorbeikam – die geschnitzten Seiten der Bücherregale, die Steine, aus denen der Fußboden zusammengesetzt war, die geschmiedeten Scharniere der Türen und die handgefertigten Nägel, mit denen sie am Holz befestigt waren, die Kapitelle der Säulen, die das Klostrum umgaben, die Pfade und Beete des Gartens selbst – jeder einzelne war vor langer Zeit von einem klugen Menschen in einer bestimmten Form hergestellt worden. Manche davon wie etwa die Türen der Alten Bibliothek hatten die gesamte Lebenszeit derer aufgezehrt, die sie angefertigt hatten. Andere sahen aus, als wären sie an einem ruhigen Nachmittag hingeworfen worden, aber mit einer solchen Umsicht, dass man sie über Hunderte oder Tausende von Jahren hinweg in Ehren gehalten hatte. Manche basierten nur auf einfacher Geometrie. Andere strotzten vor Kompliziertheit, und man konnte rätseln, ob
ihre Formen irgendwelchen Regeln unterworfen waren. Wieder andere waren Abbildungen von realen Persönlichkeiten, die irgendwann gelebt und interessante Dinge gedacht hatten – oder auch von allgemeinen Typen: dem Deolatisten, dem Physiologisten, dem Burgher und dem Dard. Wenn mich jemand gefragt hätte, hätte ich ein Viertel davon erklären können. Eines Tages werde ich sie alle erklären können.
    Die Sonne knallte in den Garten des Klostrums, wo Gras und Kieswege zwischen Gruppen von Kräutern, Büschen und einzelnen Bäumen miteinander verwoben waren. Ich griff über die Schulter nach hinten, packte meine Kulle an der Webkante und zog sie mir über den Kopf. Dann zupfte ich unterhalb der Kord an der Kulle, bis ihre untere ausfransende Kante über den Boden strich und meine Füße bedeckte. In den Falten in Taillenhöhe, unmittelbar über der Kord, legte ich die Hände zusammen und machte einen Schritt hinaus ins Gras. Das war blassgrün und piekste, denn es war heiß gewesen. Als ich ins Freie trat, schaute ich auf das südliche Ziffernblatt der Uhr. Noch zehn Minuten.
    »Fraa Lio«, sagte ich, »ich glaube nicht, dass die Schlitzbeere zu den Einhundertvierundsechzig zählt.« Womit ich die Liste der Pflanzen meinte, die nach dem Zweiten Neu Überarbeiteten Buch der Regel angebaut werden durften.
    Lio war stämmiger als ich. In jüngeren Jahren war er pummelig gewesen, aber jetzt hatte er einfach einen kräftigen Körperbau. Er hockte, vom Dreck wie hypnotisiert, auf einem Fleckchen aufgewühlten Bodens im Schatten eines Apfelbaumes. Die Webkante seiner Kulle hatte er sich im einfachen Anstandsknoten um die Taille und zwischen den Oberschenkeln hindurch gewunden. Den Rest hatte er zu einem festen Zylinder aufgerollt, den er an beiden Enden mit seiner Kord zugebunden und sich dann wie einen Schlafsack diagonal über den Rücken gehängt hatte. Er war der Erfinder dieser Wickeltechnik. Seinem Beispiel war jedoch
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