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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman
Autoren: Neal Stephenson
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niemand gefolgt. Ich musste zugeben, dass es zwar dumm, an einem warmen Tag aber durchaus bequem aussah. Sein Gesäß befand sich zehn Zoll über dem Boden: Er hatte seine Sphär so groß gemacht wie seinen Kopf und balancierte jetzt darauf.
    »Fraa Lio!«, wiederholte ich. Aber Lio hatte einen seltsamen Verstand, der manchmal nicht auf Wörter reagierte. Ein Schlitzbeerentrieb bog sich über meinen Weg. Ich fand einen Abschnitt ohne
Dornen, schloss meine Hand darum, riss den Trieb mit den Wurzeln heraus und schleuderte ihn herum, bis die winzigen Blüten an seiner Spitze Fraa Lios stoppelige Kopfhaut streiften. »Distelkopf!«, sagte ich dabei.
    Lio taumelte rückwärts, als hätte ich ihm einen Hieb mit einem Knotenstock versetzt. Seine Füße schnellten in die Luft, um dann wieder auf den Wurzeln des Apfelbaums zu landen. Da stand er, die Knie gebeugt, das Kinn angezogen, die Wirbelsäule aufgerichtet, während kleine Dreckpartikel von seinem schwitzenden Rücken abfielen. Seine Sphär rollte weg und blieb in einem Haufen entwurzelten Unkrauts liegen.
    »Hast du mich gehört?«
    »Die Schlitzbeere gehört zwar nicht zu den Einhundertvierundsechzig. Aber auch nicht zu den Elf. Also muss ich sie nicht auf der Stelle verbrennen und das in der Chronik vermerken. Das kann warten.«
    »Worauf warten? Was machst du eigentlich?«
    Er deutete auf den Dreck.
    Ich bückte mich und schaute hin. Viele wären ein solches Wagnis gar nicht eingegangen. Unter meiner Kapuze konnte ich Fraa Lio nicht einmal am Rand meines Gesichtsfeldes sehen. Es hieß, man solle Lio immer im Blick behalten, weil man nie wisse, wann er anfangen würde zu kämpfen. Ich war durch Lios Hände schon zur Genüge in Schwitzkasten und Würgegriff, Niederwurf und Schulterlage geraten und hatte große Schürfwunden davongetragen, wo er mich mit seiner Kopfhaut gestreift hatte. Ich wusste aber, dass er mich jetzt nicht angreifen würde, weil ich einer Sache Achtung entgegenbrachte, die er für faszinierend hielt.
    Lio und ich waren zehn Jahre zuvor im Alter von acht Jahren als Teil einer zweiunddreißig Jungen und Mädchen umfassenden Schar zugelassen worden. Die ersten zwei Jahre hatten wir jeden Tag einer Mannschaft von vier kräftigeren Fraas beim Aufziehen der Uhr zugeschaut. Eine Gruppe von acht Suurs läutete die Glocken. Später waren er und ich zusammen mit zwei weiteren relativ großen Jungen für die nächste Uhraufziehmannschaft ausgewählt worden. Entsprechend hatte man aus unserer Schar acht Mädchen dazu ausersehen, die Kunst des Glockenläutens zu erlernen, die weniger Kraft erforderte, aber in mancher Hinsicht anstrengender war, weil einige der Wechsel sich über Stunden hinzogen und eine ununterbrochene
Konzentration verlangten. Seit nunmehr über sieben Jahren hatten meine Mannschaft und ich jeden Tag die Uhr aufgezogen, außer wenn Fraa Lio es vergessen hatte und wir übrigen drei es hatten machen müssen. Vor zwei Wochen hatte er es vergessen, und Suur Trestanas, die Regelwartin, hatte ihn dazu verurteilt, Buße zu tun, indem er in der heißesten Zeit des Jahres die Kräuterbeete jätete.
    Noch acht Minuten. Lio mit der Zeit in den Ohren zu liegen, würde mir jedoch gar nichts nützen; ich musste mich einfach durch das, worüber er reden wollte, hindurchbeißen.
    »Ameisen«, sagte ich. Und verbesserte mich, da ich Lio kannte: »Ameisenthade?«
    Ich konnte ihn lächeln hören. »Zwei Farben von Ameisen, Fraa Raz. Sie befinden sich im Krieg. Ich muss leider sagen, dass ich ihn angezettelt habe.« Er stieß leicht gegen einen Haufen entwurzelter Schlitzbeerentriebe.
    »Würdest du es einen Krieg nennen oder einfach nur ein wildes Umherkrabbeln?«
    »Genau das habe ich gerade herauszufinden versucht«, sagte er. »In einem Krieg hast du Strategie und Taktik. Wie zum Beispiel in die Flanke fallen. Können Ameisen in die Flanke fallen?«
    Ich wusste gerade noch, was das bedeutete: von der Seite angreifen. Lio zerrte solche Begriffe aus alten Büchern über Thade – Thalkunde – heraus, so als risse er Drachenzähne aus einem fossilen Kiefer.
    »Ich vermute schon, dass Ameisen in die Flanke fallen können«, sagte ich, obwohl ich spürte, dass das eine Fangfrage war und Lio mir genau in diesem Moment mit Worten in die Flanke fiel. »Warum nicht?«
    »Durch Zufall können sie es natürlich! Du schaust von oben auf sie drauf und sagst: ›Oh, das sieht nach einem Flankenangriff aus.‹ Wenn es aber keinen Befehlshaber gibt, der das Feld
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