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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman
Autoren: Neal Stephenson
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eure toten Hunde und Katzen wiedersehen werdet?«
    Orolo hatte mich gebeten, mitzukommen und ihm als Amanuensis zu dienen. Das Wort fand ich eindrucksvoll, deshalb hatte ich eingewilligt.
    Ihm war zu Ohren gekommen, dass ein extramurischer Handwerker in die Neue Bibliothek eingelassen worden war, um einen verfaulten Dachsparren zu reparieren, den wir mit unseren Leitern nicht erreichen konnten; er war erst kürzlich entdeckt worden, und wir hatten nicht die Zeit, vor der Apert noch ein richtiges Gerüst aufzustellen. Orolo hatte vorgehabt, diesen Handwerker zu befragen, und wollte, dass ich niederschrieb, was passierte.
    Aus feuchten Augen schaute ich auf das Blatt vor mir. Es war so leer wie mein Kopf. Ich war ein Versager.

    Allerdings war es wichtiger, aufzuschreiben, was der Handwerker sagte. Bislang: nichts. Als die Befragung begann, hatte er gerade ein unzureichend scharfes Ding über einen flachen Stein gezogen. Jetzt starrte er Orolo an.
    »Ist irgendjemand von deinen Bekannten je rituell verstümmelt worden, weil man ihn beim Lesen eines Buchs erwischt hatte?«
    Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile klappte Handwerker Flec den Mund zu. Ich wusste, dass er etwas zu sagen haben würde, wenn er ihn das nächste Mal wieder aufmachte. Um sicherzugehen, dass meine Feder nicht eingetrocknet war, kratzte ich am Rand des Blattes herum. Fraa Orolo war verstummt und betrachtete den Handwerker, als wäre er ein neu entdeckter Nebel im Okular eines Teleskops.
    Handwerker Flec fragte: »Warum spult ihr euch nicht einfach ein?«
    »Einspulen«, wiederholte Fraa Orolo mehrmals, während ich es aufschrieb.
    Ich sprach stoßweise, denn ich versuchte, gleichzeitig zu schreiben und zu reden: »Als ich kam – das heißt, bevor ich zugelassen wurde -, hatten wir – ich meine, sie – ein Ding namens Spulo … Wir sagten nicht ›sich einspulen‹, sondern ›einen Spulo laufen lassen‹.« Aus Rücksicht auf den Handwerker beschloss ich, Fluckisch zu sprechen, sodass dieser irgendwie chaotische Satz nur halb so schlimm klang, wie wenn ich ihn in Orth formuliert hätte. »Es war eine Art …«
    »Bewegtes Bild«, mutmaßte Orolo. Er schaute den Handwerker an und ging zu Fluckisch über. »Wir haben geahnt, dass ›sich einspulen‹ bedeutet, an irgendeiner draußen gängigen Praxik – ihr würdet es Technologie nennen – mit einem bewegten Bild teilzuhaben.«
    »Bewegtes Bild, was für eine lustige Bezeichnung dafür«, sagte der Handwerker. Er starrte aus dem Fenster, als liefe darauf ein historischer Dokumentarspulo. Innerlich schüttelte es ihn vor Lachen.
    »Das ist Praxikorth, deshalb klingt es in deinen Ohren merkwürdig«, räumte Fraa Orolo ein.
    »Warum nennt ihr es nicht einfach bei seinem richtigen Namen?«
    »Sich einspulen?«
    »Ja.«
    »Weil es, als unser Fraa Erasmas hier vor zehn Jahren in den Math kam, ›einen Spulo laufen lassen‹ hieß, und als ich vor fast dreißig
Jahren kam, nannten wir das Ding ›Weitfunke‹. Die Avot, die hinter dieser Mauer dort leben und nur alle hundert Jahre eine Apert begehen, werden wieder eine andere Bezeichnung dafür haben. Ich wäre nicht imstande, mich mit ihnen zu unterhalten.«
    Seit ›Weitfunke‹ hatte Handwerker Flec nichts mehr begriffen. »Weitfunke ist etwas völlig anderes!«, sagte er. »Den Inhalt von ›Weitfunke‹ kann man sich nicht in einem Spulo anschauen, da muss man erst das Format aufwärtskonvertieren und neu analysieren …«
    Fraa Orolo war davon ebenso gelangweilt wie der Handwerker von dem Gerede über Hunderter, und die Unterhaltung geriet lange genug ins Stocken, dass ich sie niederkritzeln konnte. Mein Unbehagen war wie ein Schluckauf unbemerkt verschwunden. Handwerker Flec wandte sich in dem Glauben, die Unterhaltung sei endgültig vorbei, zu dem Gerüst um, das seine Leute unter dem schadhaften Dachsparren errichtet hatten.
    »Um deine Frage zu beantworten«, hob Fraa Orolo an.
    »Welche Frage?«
    »Die du gerade vor einer Minute gestellt hast – warum ich mich, um zu erfahren, wie es dort draußen aussieht, nicht einfach einspulte.«
    »Oh«, sagte der Handwerker, leicht verwirrt durch die Länge von Fraa Orolos Aufmerksamkeitsspanne. Ich leide an einer Aufmerksamkeitsüberschussstörung , sagte Fraa Orolo gerne, so als wäre das komisch.
    »Zunächst einmal«, sagte Fraa Orolo, »haben wir kein Spulogerät.«
    »Spulogerät?«
    Mit einer Handbewegung, die gleichsam die Wolken sprachlicher Verwirrung vertreiben sollte, sagte Orolo: »Was
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