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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Autoren: Brita Steinwendtner
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rollte seinen Bleistift auf dem Tisch hin und her, machte Notizen. Matthias saß mit Parmenides beim Wirt im Winkl, an einer Nebenstraße des Grillparz. In der Gaststube war es laut und rauchig, die Kellnerin in hohen Gesundheitsschuhen, Bier und Most und Brezen und Duft von gebratenem Schwein. Hinter den Holzkreuzen der kleinen Fenster lag dichter Nebel, Italien war fern, aber Tom war ihnen nahe. Sie fragten sich, warum er so lange in der Comunità geblieben war.
    Er hat nicht gerne darüber gesprochen, sagte Matthias.
    Die Oberen werden wohl versucht haben, ihn zu halten, vermutete Parmenides.
    Hat ja als große Hoffnung der Bewegung gegolten.
    Versteh ich. Tom war immer schon intelligenter als die meisten.
    Er muss ziemlich schnell aufgestiegen sein, erstaunlich. Ich weiß nicht, ob er dir erzählt hat, dass er zur Ausbildung nach Rom geschickt worden ist, dass er die Sozialprojekte in den Hafen- und Raffinerie-Vierteln von Monfalcone und Muggia koordiniert hat und auch die jährlichen internationalen Jugendtreffen irgendwo in der Welt. Er hat eigene Bands gegründet und ist er nicht auch einer der Redakteure der hauseigenen Zeitung geworden, die in viele Sprachen übersetzt wird?
    Ja, ist er. War alles aber trotzdem das Muster, vor dem er ursprünglich geflohen ist: das Gehorchen- und Funktionieren-Müssen. Und sein Studium hat er links liegen lassen.
    Für die Idee der Weltverbesserung hat er viel, sehr viel in Kauf genommen.
    Heute sind wir erstaunlich oft derselben Meinung.
    Ist selten, ja.
    Klüger als Streiten.
    Nicht immer, aber heute schon. Du musst dir das einmal vorstellen, Parmenides, was ich im Lauf der Zeit aus Tom über die Struktur der barca , die er selbst erst spät durchschaut hat, herausbekommen hab: Jedes Einkommen, das über die minimalen Eigenbedürfnisse hinausging, musste abgeliefert werden, was die Mitglieder in Abhängigkeit gebracht hat. Die Geschlechter waren getrennt, Priester mussten lebenslange Keuschheit schwören, verheiratete Laien sollten Sexualität auf das „Unvermeidliche“ reduzieren. Abende und Wochenenden mussten der Gemeinschaft gewidmet werden, Kinder sind organisiert erzogen worden, was ihn später an die Kommune des Aktionskünstlers Otto Mühl erinnert hat, in der sie früh den Müttern weggenommen wurden, um sie zu einer „freien“ Generation heranzubilden – die Realität für die Kinder und Minderjährigen hat anders ausgesehen, wie du weißt. Und als Student der Geschichte hat er über die NS-Bestrebungen geschrieben, den „neuen Menschen“ zu schaffen: in der „Lebensborn“ genannten Kopulationsanstalt. Darüber allerdings wollte Tom immer wieder diskutieren.
    Warum kommen wir nie von diesem Thema los, Matthias?
    Hat ihn ein Leben lang beschäftigt.
    Uns auch.
    Parmenides zog einen Geldschein aus der Brieftasche, zahlte, stand auf und sagte im Hinausgehen:
    Vielleicht haben sich für ihn einfach die Projekte und die Gebete erschöpft.
    Vielleicht hat er gesehen, wie schnell Ideale korrumpieren.
    Oder wie unmerklich.
    Vielleicht, ja.
    Draußen hatte der Nebel die Landschaft verschluckt. Matthias schlug den Mantelkragen hoch und wünschte sich italienische Sonne. Parmenides zog tief die feuchtkalte Luft ein und ging zum Parkplatz unter den Kastanienbäumen. Braunstumpfe Früchte mischten sich mit nassen Blättern und Kies. Vielleicht, sagte er, war das Hypermotivationstheater der Überzeugten und Erwählten zu ermüdend, wie es Sloterdijk beschreibt, den Tom vorübergehend gern gelesen hat. Dieses metaphysische Eiferertum.
    Im Schritttempo fuhren sie zurück in das Dorf. Die Nebellichter reichten kaum zum nächsten Begrenzungspfosten. Rot und Weiß mischten sich im Ungefähren.
    *
    Vielleicht.
    Vielleicht war es auch nur der einfachste Grund gewesen: Liebe.
    Als auslösendes Ereignis für das Ende von Toms barca -Zeit wurde von der Leitung der Comunità jedenfalls die Liaison mit Violetta angegeben.
    Tom war nach Fažana geschickt worden, damals noch im zerfallenden kommunistischen Staat Jugoslawien. Fažana ist ein kleiner Fischerhafen an der Westküste Istriens, gegenüber der Insel Brioni, auf der Tito seine Luxusresidenz hatte. Der Ort liegt nahe jener Stelle, wo dem in Seenot geratenen Loijze Simonetto angeblich Jesus erschienen war. Tom sollte Möglichkeiten für eine halb legale missionarische Zweigstelle erkunden, die ausschließlich als Sozialprojekt getarnt war.
    Violetta hatte gerade ihre zweijährige Schulung in der Comunità hinter sich. Sie
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