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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Autoren: Brita Steinwendtner
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zu. Im Winter standen sie auf dem durchsichtigen Eis, als ob sie schwebten, still und wartend. Bei Nebel hörte er nur ihre Schreie. In der Zeit der Paarung kämpften sie, jagten sich, zogen rastlos ihre Kreise über den Himmel, bildeten Paare und wollten Zukunft. Nur ein Paar blieb all die Jahre ohne Nachwuchs: Es war ein Mischlingspaar, eine Gans hellbraun gefiedert, die andere weiß. Herbst war die Zeit vor dem großen Zug. Wenn Tom nachts die Sprache der Vögel hörte in Vorbereitung des Abschieds, war er seltsam getröstet: Er wusste, dass sie wiederkommen. Am Morgen sah er sie aufsteigen in spitzen Formationen, das Ziel schon in der Bewegung des Fluges – so frei, einen Ort spielerisch verlassen zu können.
    *
    Fast zehn Jahre war es her, dass Tom in das Haus am Lamandergrund eingezogen war. Er hatte viele Kindheitserinnerungen an diesen Ort, glückliche Erinnerungen an Heuduft und Bachgemurmel, Sonnenglast und Bauernbrot, Mooshöhlen für die Wichtelmänner und an die Lieder der Lerchen.
    Nach der Scheidung der Eltern waren sie nur mehr selten hier.
    Karin und er wuchsen bei der Mutter in Korneuburg auf. Die weitläufigen Donauauen ersetzten den Bach und wurden ein anderes, verwunschenes Spielelabyrinth. Verlockender noch war die Seilfähre über den Strom nach Klosterneuburg. Der Pächter war ein kinderliebender Mann und ließ Tom auf das Deck kommen, sooft er wollte, nahm ihn an der Hand, zeigte ihm Wellen, Strömung, Seil und Kraftverhältnisse. Diese Überfuhr, die in der lautlosen Bewegung und im Fahrtwind etwas Fröhliches und Erwartungsvolles hatte, setzte das Kind drüben als ein anderes ab, als eines, das ein paar Minuten lang das Lachen neu lernte.
    Der Vater war Zivilgeometer für Straßenbau und neue Wohnanlagen in Linz. Er war viel unterwegs, sportlich, erfolgsorientiert und in seiner erzieherischen Strenge das Gegenteil seiner Frau, die die Dinge sein ließ, wie sie kamen. Die Kinder waren abwechselnd einmal im Monat ein Wochenende beim Vater, der große Erwartungen in den Sohn setzte.
    Tom war ein exzellenter Schüler. Es flog ihm alles zu, er war wissbegierig und formbar und der Liebling der Lehrer. Schon bevor sich das Zerbrechen der Familie abzeichnete, verbrachte er viele Ferien bei den Großeltern väterlicherseits am Weißensee in Kärnten. Tom liebte sie, vor allem den Großvater, der ein angesehener Geologe war, ihm im Sommer die aufschlüsselbare Welt der Gesteine und im Winter die zahlreichen Arten von Schnee erklärte und ihm viele Geschichten erzählte. Weniger die Sagen aus den Kärntner Grenzbergen, sondern abenteuerliche Begebenheiten aus fernen Ländern jenseits des Ozeans, die er untersucht hatte: erzählte vom Petrified Forest in Arizona, wo zu Stein gewordene Bäume wie umgestürzte Säulen griechischer Tempel im rötlichen Wüstensand liegen; von weizengelben Ebenen in den beiden Dakotas, unter denen reiche Ölvorkommen lagern; von den Geschieben eines Stroms, der einen nördlichen und einen südlichen Arm hat und denselben Namen trägt wie die kanadische Provinz, durch die er fließt: Saskatchewan. Als Kind konnte Tom diesen Namen schwer aussprechen und übte ihn heimlich im Bett seiner Dachkammer, um den Großeltern am Morgen eine Freude zu bereiten: Säs-kä-tsche-wan, Säs-kä-tsche-wan. Immer, wenn er zu Besuch kam, lag für Tom ein neues Taschenbuch auf dem Nachtkästchen: „Fliegender Stern“, „Cowboy Jim“ oder „Die letzten Tage von Dark Eagle“, Bücher von mutigen Indianer- und Cowboyjungen, die nach Gerechtigkeit suchten. Mit Spannung las Tom diese Erzählungen, ritt mit schnellen Pferden über die Prärie, jagte Büffel, saß am Ufer der „Langsamen Wasser“.
    Als Tom heranwuchs und ein humanistisches Gymnasium besuchte, wies ihn der Großvater in die Zeitgeschichte ein. Berichtete von Partisanen und Hitlers Eliteschule, NAPOLA genannt, die in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges auf der Flucht vor der anrückenden russischen Front hierher an den Weißensee verlegt worden war. Es sank in Toms Gedächtnis.
    Die Gegenwart dieser Ferienwochen jedoch war der Sommer, der See, die Mädchen, die Italienreisen mit den Großeltern, die schnelle Sprache, die fraglosen Stunden.
    L’ Isonzo scorrendo
    mi levigava
    come un suo sasso
    Der strömende Isonzo
    glättete mich
    wie einen seiner Steine
    Giuseppe Ungaretti, übersetzt von Ingeborg Bachmann, früh lernte Tom beide lesen. Matura mit Auszeichnung. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an
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