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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Autoren: Brita Steinwendtner
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verschiedenen Universitäten. Er schrieb Arbeiten über Georg Trakl, der sich das Leben nahm, und Ludwig Wittgenstein, den Sprachskeptiker, über Till Eulenspiegel, diesen Vorläufer des Dadaismus, über den Lord-Chandos-Brief Hofmannsthals, in dem alle Sicherheiten zerfallen, und über Peter Altenberg, den Wiener Kaffeehaussandler und Lebensphilosophen. Hielt Referate über Franz Grillparzers Tagebücher, den Hof Karls V. in Madrid und die über dreißig geplanten und missglückten Attentate auf Adolf Hitler. Tom war auf eine unauffällige Art brillant, anarchisch, unbotmäßig im Denken.
    An den Lamandergraben dachte damals niemand.
    Das Haus stand leer.
    Das Gras blieb ungemäht.
    Der Bach floss wie in allen Jahren.

3
    Die Welt war offen damals. Eine Zentrifuge für Ideen, Pläne und exzentrische Versuche.
    Einer davon war die Comunità della barca .
    Die Mutter, musisch und achtlos, wie sie war, und allem zugeneigt, was dem Stil des Vaters widersprach, war es, die ihre beiden Kinder überredete, Teil dieser religiösen Vereinigung zu werden. Die Comunità hatte ihren Sitz in Triest und Rom. Karin ergriff schnell die Flucht, Tom war begeistert. War noch Gymnasiast, dann Student.
    Die Gemeinschaft war 1947 in Triest entstanden, in Zeiten der Arbeitslosen, Vertriebenen und Toten. In dieser Grenzstadt, in der den Bürgern alle paar Monate ihre Identität, Sprache und Zugehörigkeit genommen wurden, wo es die Risiera gab, das einzige Vernichtungslager der Faschisten auf italienischem Boden, in dieser Stadt hatte der neunzehnjährige Fischersohn Loijze Simonetto eine Erleuchtung: In einer stürmischen Nacht auf dem Meer vor der istrischen Küste, als sein Schiff zu sinken drohte, sei ihm, so berichtete er, Jesus Christus erschienen. Er habe ihm aufgetragen, die Menschen durch die Liebe zu Gott und zueinander zu vereinen und Gutes zu tun nach himmlischem Vorbild.
    Italien ist ein guter Boden für die Botschaften zwischen Gott und Mensch. Es hat darin Tradition seit zweitausend Jahren. Das Symbol der Gemeinschaft wurde die barca, ein Boot als Gefährt, das Flüsse und Meere zu überwinden und Menschen zu verbinden imstande ist. Offensichtlich eine historische Notwendigkeit ansprechend, wuchs die Comunità della barca überraschend schnell. In den späten 1970er Jahren, als Tom eintrat, war sie bereits zu einer weltumspannenden Bewegung geworden, die nach dem Vorbild der katholischen Mutterkirche neben der spirituellen Attraktivität große wirtschaftliche Macht aufgebaut hatte. Es waren vor allem junge Leute aus ganz Europa, die nichts hatten außer ihren Idealismus und sich freudig den Parolen von Liebe, Zusammenstehen und sozialem Dienst für Arme hingaben. Sie waren bereit, den Worten der Bibel und der Evangelien zu folgen, die für das Jenseits den Lohn versprechen, der in der schmerzerfüllten Welt durch selbstloses Leben zu erwerben sei. Hier fand Tom sein erstes, großes Ziel.
    Das Zentrum der Comunità lag über dem Triestiner Hafen, in einer Villa aus der Habsburgermonarchie mit verwunschenem Park und hortensiengesäumten Terrassen, die ein Schweben über der Erdenschwere suggerierten. Zu Hause waren geschiedene Eltern, Streit und lichtlose Tage. Waren Pflicht, Langeweile und das Modewort der Selbstverwirklichung als Single. Waren die Nachwirkungen der 68er Revolten, die derben Stammtische der Vororte und in Kärnten kam ein neuer Provinzdiktator auf, fesch, korrupt und fremdenfeindlich, ein Blender und Demagoge, der dabei war, sein Land in den politischen, wirtschaftlichen und moralischen Bankrott zu führen. Hier war das Meer, waren die südlichen Sterne über der Bucht, die sorglosen Tage und die gitarredurchspielten Nächte. Hier waren Gütergemeinschaft, Dialog und sinnvolles Tun für eine bessere Gesellschaft. Tage der Waisen-, Asylanten- und Altenbetreuung, der Aufklärungsbemühungen in den Vierteln der Hafenarbeiter, um sie gegen das Kapital zu mobilisieren, der Überzeugungsarbeit bei den Bossen, den Gewinn gerecht zu teilen unter allen, die ihn erwirtschaften. Hier war das Fest des gemeinschaftlichen Jungseins, waren sinnliche Lebendigkeit, Aufbruchsstimmung und die Geborgenheit im Größeren. Andersgläubige waren toleriert und integriert. Offenheit, Fleiß, Armut, Selbstlosigkeit. Einssein, einander lieben.
    Welch schöne Worte.
    *
    Welch schöne Worte, ja, sagte Matthias Jahre später, spielte mit den Bierdeckeln, warf sie in die Luft, warf Blicke in die Runde, auf Bauern, Arbeiter, Familien,
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