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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Autoren: Brita Steinwendtner
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sichtbar.
    Dort, wo sich der Lamandergraben öffnete, ins Besiedelte des Dorfrandes überging und der Bach den Bogen bildete, stand das alte Bauernhaus, in dem Tom lebte. Jenseits des Baches stieg ein steiler Hang auf, der Fichtenwald auf seiner Kuppe war ungepflegt. Manchmal stürzte ein Baum über den Abhang, verfing sich im Ufergebüsch und blieb liegen, bis er vermoderte.
    An der Nordwestseite des Anwesens führte die Straße oberhalb der Scheune vorüber, hinter den verwilderten Mostbirnbäumen und fast auf der Höhe von deren Kronen. So lag das Ensemble in einer Senke, abgetrennt von den neuen Reihenhäusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite, mit den akkuraten Zugängen und den Wäschespinnen in den Vorgärten.
    ‚1799‘ stand über dem Eingang des Haupthauses. Noch waren barocke Stuck-Verzierungen in manchen Räumen zu sehen. Auf einem bemalten Himmelbett im ersten Stock gab Jesus seinen Segen, Maria lächelte von einer Zimmerdecke. Es soll früher viele Hinterglasbilder gegeben haben, sie sind angeblich geplündert worden.
    Dem Gehöft war ursprünglich die Mahlgerechtigkeit für eine Mühle zugeteilt, es war unterschiedlichen Adelsgeschlechtern verpflichtet und wandelte sich durch wechselnde Besitzer in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts zu einem Ort feiner Geselligkeit mit elegantem Ambiente und Dienstboten. Auf der Holzveranda im ersten Stock, die wie ein schmucker Fremdkörper an diesem einst dem Handwerk und Bauernleben gewidmeten Haus wirkte, soll nachmittags Tee serviert worden sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten die Gebäude als Zufluchtsstätte für zurückflutende Frontsoldaten und Flüchtlinge. In fast jedem der Wirtschaftsräume, so wird überliefert, hat jemand Unterschlupf gefunden. Toms Großeltern waren verständnisvoll und hatten ihr Haus den Erfordernissen einer chaotischen Zeit geöffnet. Amerikaner mit Militärwagen und Tanks sollen vorübergehend um das Haus gestanden sein. Man erzählte sich manche Geschichte.
    Der ganze Besitz stand unter dem Namen von Toms Mutter, Sieglinde N., im Grundbuch, die hier aufgewachsen war und nach dem Scheitern ihrer Ehe am Donauufer bei Korneuburg lebte. Vergeblich hatte der Sohn versucht, sie zu einer Übergabe der Lamander-Liegenschaft zu bewegen. Er hätte gerne einen Teil des Grundes verkauft, um Geld für Reparaturen zu bekommen. Das Dach war löchrig, an manchen Stellen gab es bereits dunkel geränderte Flecken an den Zimmerdecken. Als er selbst eine Zeit lang am Bau beschäftigt gewesen war, hatte Tom billig Restziegel kaufen können. Mit Moos überzogen, stapelten sie sich ungebraucht an der hinteren Hauswand. Der Verputz fiel in großen Brocken von den Außenmauern, die Wasserleitungen waren rostig, die Elektroinstallationen lagen offen, was schon lange verboten war.
    Die Mutter liebte, so sagte sie, Thomas mehr als seine Schwester Karin. Aber sie konnte sich von nichts trennen. Sie musste alles horten, Haus, Dinge, Tand, Strohblumen, Erinnerungen, das Leben selbst. Sie war eine manische Sammlerin.
    Es ist eine Krankheit, sagte Parmenides, Toms väterlicher Freund, der mit seiner Familie im Oberdorf an den Hängen des Grillparz wohnte. Er kannte Sieglinde seit Jahrzehnten. Sie leidet unter Kaufwahn, sagte er, vielleicht kommt das aus dem Trauma ihrer Kindheit.
    In Sieglindes Wohnung türmten sich hunderte Schachteln, bunt und wuchernd, vom Boden bis zur Decke Pakete aus Versandhäusern, die meist ungeöffnet waren. Nur auf dem Fensterbrett in der Küche blieb ein freier Raum. Hier stand eine verbeulte Blechdose mit Deckel und Klappverschluss, wie Kinder sie früher zum Beerenpflücken benützten. Sonst Karton auf Karton alles Unnütze aller Lockangebote. Ein Wahnsinn, sagte Tom und sagte die Schwester und sagte der Exmann, aber nur Tom besuchte von Zeit zu Zeit die Mutter, entsorgte so viel er konnte heimlich in Keller und Müll, bahnte ihr einen Weg zum Fernsehsessel, suchte die Fernbedienung, strich ihr über das Haar und fuhr wieder heim.
    Hoffte, dass Elisa da sein würde.
    Grünblau der Himmel über der Autobahn. Wie ein Teich. Grünblau, grüngrau, grün. Wie der Lamanderteich, der ein Stück bachabwärts von der Gemeinde angelegt worden war. Tom kannte einen heimlichen Weg entlang eines alten Fluders zum Nordufer, das überwuchert und uneingesehen von den Erholungsstätten der Dörfler war. Er beobachtete die Wildgänse. Tat es gerne, wenn er ruhelos war. Die Gänse flogen ein und flogen weg. Er schaute ihnen einfach
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