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An die Empoerten dieser Erde

An die Empoerten dieser Erde

Titel: An die Empoerten dieser Erde
Autoren: Stéphane Hessel
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Ich sehe die Szene noch genau vor mir: Ich stehe in der großen Halle des Hauptbahnhofs in Zürich und warte auf die Ankunft Stéphane Hessels. Die großen elektronischen Wandzeitungen zeigen Werbung für den ewigen Fortschritt, dazwischen meldet sich die düstere Realität in greller Neonschrift zu Wort: »Der letzte Schutzwall gegen die Schuldenkrise« – »Die europäische Troika zeigt Zuversicht« – »Griechenland vor dem Aus« – »Eine Billion Euro für den Rettungsschirm« – »Jugendarbeitslosigkeit in Spanien so hoch wie noch nie« – »Rating-Agentur droht mit Triple-A-Entzug« – »Occupy Wallstreet wehrt sich!«
    Eine Zeit, die auf dem Kopf steht, begleitet von Bildern junger Menschen aus aller Welt, die gegen die Misere aufbegehren: »Indignez-vous!«, »¡Indignaos!«, »Indignatevi!«, »Time for outrage!«, »Empört euch!«
    Es ist ein wunderschöner Tag im Herbst 2011, und im hellen Gegenlicht sehe ich den TGV mit revolutionärer Fracht an Bord einfahren – mit dem Ehrengast aus Paris, dem begnadeten Redner.
    Stéphane Hessel tritt mit seinem unglaublich strahlenden Gesicht aus der Menge auf mich zu. Wir begrüßen uns herzlich, und sehr schnell kommen wir ins Gespräch, während er bescheiden seinen kleinen schwarzen Reisekofferauf Rollen hinter sich her zieht – das will er auf ausdrücklichen Wunsch selber übernehmen.
    »Ordre du jour? Wie sieht der Ablauf des Tages aus?«, erkundigt er sich ungeduldig, aber sehr charmant mit seiner unvergleichlich sanften Stimme und wechselt dabei mühelos zwischen französischer und deutscher Sprache.
    Stéphane Hessel – er ist ein Mann voller Tatendrang. »Was steht an? Was werden wir am Nachmittag machen? Wann werde ich meine Rede am Abend halten? Haben Sie die neuesten Ergebnisse über die Verhandlungen in Brüssel wegen der Schuldenkrise mitverfolgt?«
    Ich denke, dass er und seine Frau vielleicht müde von der Reise sind und gleich ins Hotel wollen, doch ist das mitnichten der Fall. So zeige ich ihnen Zürich und berichte, was an diesem Morgen in Brüssel zur Lösung der Schuldenkrise beschlossen wurde. Er überrascht mich daraufhin mit einer Frage zur Occupy-Paradeplatz-Bewegung, die sich soeben in Zürich formiert hat – unglaublich, wie sich dieser Mann von 94 Jahren bis ins kleinste Detail informiert, um sich ein genaues Bild dieser Welt zu machen!
    Schließlich begleite ich Stéphane Hessel und seine Frau zum Hotel St. Gotthard, das an der berühmten Zürcher Bahnhofstrasse liegt, wo das Kapital dieser Welt in allen Farben verschwiegen in schlicht anmutenden Bankgebäuden lagert.
    Einen Eindruck von seiner weltoffenen, dem Menschen zugetanen Art hatte ich bereits in Brüssel und Barcelona gewonnen, als ich ihn im Rahmen des Russell-Tribunals zu Palästina kennenlernte, und dieser Eindruck bestätigte sich mir nun hier in Zürich. Stéphane Hessel begegnetden Menschen mit offenem Herzen und echtem Interesse, er spricht sie als Menschen an und bekommt deshalb auch die Antwort von Menschen zurück.
    Wir sind keine fünf Minuten im Hotel, Stéphane Hessel hat seine Reisedokumente noch nicht abgegeben, da ist er bereits in ein freundlich-angeregtes Gespräch mit den Angestellten der Rezeption verwickelt. Kurz darauf versichert eine weitere Mitarbeiterin, dass es kein Problem für sie sei, eine Stunde früher als gewohnt ihre Arbeit zu beginnen, um dem Herrn in dem beigefarbenen, verknitterten Mantel, der sehr früh aus dem Haus muss, das Frühstück zu bereiten – erst später erfährt sie, dass es sich um jenen berühmten alten Mann handelt, der die Menschen dieser Welt auffordert, sich zu empören, weil ihre Würde Tag für Tag in Frage gestellt wird.
    Stéphane Hessel scheint den Schlüssel zu den Herzen der Menschen zu besitzen. Wie sonst ist es zu erklären, dass er sich mit einem Büchlein von gut dreißig Seiten weltweit Gehör verschaffen konnte? Offenbar trifft er mit seinen Worten und Überzeugungen den Nerv der Zeit – und darüber hinaus den Nerv des Einzelnen. Den Verzagten wie den Zynikern führt er vor, dass das Unmögliche möglich ist, wenn man den nötigen Mut aufbringt. Stéphane Hessel, der Rebell einer ganzen Epoche – seiner Lebenszeit, die mit dem 20. Jahrhundert zusammenfällt –, nimmt uns in seinen letzten Jahren an die Hand, zeigt uns den Weg ins 21. Jahrhundert. Mit seiner historischen Erfahrung als französischer Widerstandskämpfer, als Buchenwald-Überlebender und Mitwirkender an der Allgemeinen Erklärung
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