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An die Empoerten dieser Erde

An die Empoerten dieser Erde

Titel: An die Empoerten dieser Erde
Autoren: Stéphane Hessel
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zwanzig Jahren erreicht hatte, das war der Grund, dass ich eben erst am 20. Oktober 1937 naturalisiert wurde. Aber ich fühlte mich schon immer als ein echter Franzose!
    A.M.: Ein unangenehmes Kapitel, aber eben doch sehr prägend für Sie, wenn ich die Nummer 10 003 nenne. Würden Sie sich ganz kurz dem Publikum gegenüber festlegen wollen?
    S.H.: Halten Sie das für meine Nummer in Buchenwald? 10 003! Natürlich ist es kein guter Moment, wenn manvon der Gestapo festgenommen wird. Man denkt, jetzt ist es mit mir zu Ende. Ich war von einem Kameraden verraten worden, leider. Er hatte unter Folter der Gestapo meine Identität genannt. Am 10. Juli 1944 hatten sie mich in Paris verhaftet, dann brachten sie mich nach einem Monat ziemlich schlimmer Folter und Verhöre nach Buchenwald ins Konzentrationslager und gaben mir eine Häftlingsnummer: die Nummer 10 003! Unter dieser Nummer musste ich nun mit einer Gruppe von Leuten zusammen sein, die alle zum Tode verurteilt waren.
    Wir ahnten es natürlich, aber erst als die ersten sechzehn von uns sechsunddreißig insgesamt aufgehängt wurden, da wussten wir, dass wir jetzt alle
     dran sein werden und eine Methode finden mussten, um uns zu retten. Diese Methode bestand für mich darin, die Identität eines an Typhus verstorbenen
     Franzosen zu übernehmen. Sein Körper wurde mit meiner Identität zum Krematorium gesandt, während ich seine Identität bekam – die Identität eines
     Häftlings zwar, aber eines, der nicht zum Tode verurteilt worden war. Das alles wäre in diesem schrecklichen Lager von Buchenwald unmöglich gewesen, wenn
     mir nicht mehrere Menschen dabei geholfen hätten. Allen voran ein Deutscher namens Eugen Kogon 7 , der schon
     jahrelang ein Häftling war und mit dem Typhus-SS-Doktor in Beziehung stand und ihn überzeugen konnte, dass man ihm später, wenn der Krieg zu Ende wäre,
     eine Zuschrift gäbe, drei von uns jetzt gerettet zu haben. Das gelang Eugen Kogon.Sein Sohn wohnt in der Schweiz, hier irgendwo ganz in der Nähe von Zürich. Er hat meine Bücher auf Deutsch übersetzt. Also denken Sie sich, welch ein Zusammentreffen das ist, dass der Sohn des Mannes, dem ich mein Leben verdanke, die Übersetzung meiner Bücher übernommen hat! Das ist für mich eine besondere Genugtuung!
    A.M.: Ein weiteres Datum, wenn wir ein paar Pflöcke einschlagen wollen: 10. Dezember 1948, morgens um zehn Uhr. Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt?
    S.H.: Am 10. Dezember 1948 saß ich im Palais de Chaillot in Paris, es wurde gerade abgestimmt. Die damals vierundfünfzig Mitglieder der Vereinten Nationen saßen in einer Reihe zusammen, und der gute Andrew Cordier 8 , der amerikanische Untersekretär, rief die Staaten auf. Das erste Land war Afghanistan, denn in der alphabetischen Ordnung ist Afghanistan das erste Land der UNO. Afghanistan sagte »yes«. Dann haben alle anderen auch ihr Ja gegeben. Acht Länder haben sich zwar für »abstain« ausgesprochen, aber damals galt die Enthaltung nicht als negativ. Also, mit 46 Ja-Stimmen und acht Enthaltungen wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Das war das Ende dreier langer Jahre, in denen ich meinen Freunden René Cassin 9 , Charles Malik 10 und der guten Eleonore Roosevelt 11 assistierte, die Präsidentin der Gruppe war, die die »Allgemeine Erklärung« geschrieben hat.
    Es ist etwas ganz Besonderes und Außerordentliches, dass alle diese Artikel, die dreißig Artikel, die in der »Allgemeinen Erklärung« stehen, bis heute Gültigkeit haben. Sie sind immer noch genau das, was die Demokratie braucht, um eine richtige Demokratie zu sein. Diese Erklärung ist ein Programm! Viel später kamen zwei weitere Konventionen hinzu, die zivilen und politischen Rechte einerseits und die ökonomisch-sozialen Rechte andererseits. Und natürlich blieb es dabei nicht stehen. Heute gibt es sogar ein internationales Tribunal, um diejenigen zu richten, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Kurzum, wir sind schon vorangekommen! Das Programm, das in dieser Erklärung vom 10. Dezember 1948 steht und das Sie soeben erwähnt haben, ist heute noch das, was alle Demokraten, was alle Frauen und Männer, die in diesem Saal sitzen, brauchen. Ihr seid alle Demokraten, davon bin ich überzeugt! Wir müssen diese Erklärung immer wieder mal lesen und uns fragen, ob schon alles erreicht ist, und falls nicht, was wir tun müssen, damit wir es morgen erreichen können.
    A.M.: Um noch einen Pflock einzuschlagen: Das Jahr
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