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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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höchstpersönlich gepflegt. Genauer gesagt, hatte er anfangs, als die Leute sie noch besuchen wollten, ihre Besucher streng überprüft. Clive und Vernon waren auf eiserne Rationen gesetzt. Eine weitere männliche Schlüsselfigur, der Außenminister, war gleichfalls unwillkommen. Die Leute begannen zu murren, in einigen Klatschspalten gab es versteckte Hinweise. Und dann kam es nicht länger darauf an, denn es ging die Nachricht um, Molly sei auf gräßliche Weise nicht mehr sie selbst; die Leute wollten sie nicht mehr besuchen und waren froh, daß George zugegen war, um sie daran zu hindern. Clive und Vernon jedoch zogen weiterhin Genuß daraus, ihn zu hassen.
    Als sie sich wieder umwandten, klingelte das Mobiltelefon in Vernons Tasche. Er entschuldigte sich, trat zur Seite und ließ seinen Freund allein weitergehen. Clive wickelte seinen Mantel um sich und verlangsamte seine Schritte. Mittlerweile mochte die schwarzgekleidete Menge vor dem Krematorium auf mehr als zweihundert Köpfe angewachsen sein. Es würde unhöflich wirken, wenn sie nicht bald hinübergingen und mit George ein paar Worte wechselten. Am Ende, als Molly im Spiegel ihr eigenes Gesicht nicht mehr erkannte, war er ihrer habhaft geworden. An ihren Liebschaften konnte er nichts ändern, doch am Ende gehörte sie ganz ihm. Clives Füße wurden taub, und als er aufstampfte, schenkte der Rhythmus ihm das Motiv von zehn absteigenden Tönen wieder, ritardando, ein Englischhorn, und in sanft aufsteigender kontrapunktischer Gegenbewegung die Violoncelli – ihr Spiegelbild. Ihr Gesicht im Spiegel. Das Ende. Jetzt wollte er nur noch eines: die Wärme, die [13]  Stille seines Arbeitszimmers, sein Klavier, die unvollendete Partitur, und ans Ende gelangen. Er hörte Vernon zum Abschied sagen: »Gut. Schreiben Sie das Lead um, und bringen Sie den Artikel auf Seite vier. Ich bin in zwei Stunden da.« Dann sagte er zu Clive: »Diese verdammten Israelis. Wir sollten hinübergehen.«
    »Ich denke auch.«
    Doch statt dessen spazierten sie noch einmal über den Rasen, denn schließlich waren sie hier, um Mollys zu gedenken. Vernon – er hatte sichtlich Mühe, sich zu konzentrieren – widerstand den Belangen seiner Redaktionsstube: »Sie war eine wunderbare Frau. Erinnerst du dich noch an den Snookertisch?«
    Weihnachten 1978 hatte eine Gruppe von Freunden ein großes Haus in Schottland gemietet. Molly und der Mann, mit dem sie damals ging, ein Kronanwalt namens Brady, führten auf einem ausrangierten Snookertisch das Tableau »Adam und Eva« vor, er in seinem Slip, sie in BH und Höschen, mit einem Queueständer als Schlange und einer roten Kugel als Apfel. So allerdings, wie die Geschichte der Nachwelt überliefert und in einem Nachruf festgehalten worden war, ja wie sie selbst von einigen der Anwesenden erinnert wurde, hatte Molly »am Heiligabend in einem schottischen Schloß nackt auf einem Snookertisch getanzt«.
    »Eine wunderbare Frau«, wiederholte Clive.
    Als sie so tat, als ob sie in den Apfel beißen wollte, hatte sie, eine Hand auf die ausladende Hüfte gestützt, ihm, Clive, direkt in die Augen geschaut und, während sie geräuschvoll kaute, verführerisch gelächelt wie die Parodie einer Nutte in einem Varieté. Er dachte, die Art, wie sie [14]  seinem Blick standhielt, sei ein Zeichen, und siehe da, in jenem April waren sie wieder zusammen. Sie zog in das Studio in South Kensington ein und blieb den Sommer über dort wohnen. Das war etwa zu der Zeit, als sie mit ihrer Restaurantkolumne erste Erfolge erzielte, als sie im Fernsehen auftrat und den Michelin Gastronomique als »Kitsch der Küche« anprangerte. Es war auch die Zeit seines eigenen Durchbruchs, der Variationen für Orchester in der Festival Hall. Ein zweiter Anlauf. Vermutlich hatte sie sich nicht verändert, er dagegen schon. Nach zehn Jahren hatte er genug gelernt, um sich von ihr etwas beibringen zu lassen. Er hatte stets der »Dran, drauf und drüber«-Schule angehört. Sie hatte ihm sexuelles Geschick beigebracht, die Notwendigkeit gelegentlichen Stillhaltens. Lieg still, so, sieh mich an, sieh mich richtig an. Wir sind eine Zeitbombe. Er war beinahe dreißig, nach heutigen Maßstäben ein Spätentwickler. Als sie eine eigene Wohnung fand und ihre Taschen packte, bat er sie, ihn zu heiraten. Sie küßte ihn und flüsterte ihm das Zitat ins Ohr: He married a woman to stop her getting away / Now she’s there all day. Sie hatte recht, denn nachdem sie ausgezogen war, liebte er es mehr
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