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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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Presse; [27]  die Tatsache, daß er bereits zwei Abgabetermine überschritten hatte – bis zur Jahrtausendwende selbst war es noch Jahre hin. Aber es gab auch Tage wie heute, da er an nichts anderes als an die Musik selbst dachte, die ihn ganz in ihren Bann schlug. Seine vor Kälte noch immer fühllose Linke in die Manteltasche gesteckt, setzte er sich an den Flügel und spielte den Abschnitt, wie er ihn aufgeschrieben hatte: langsam, chromatisch und rhythmisch so vertrackt, daß er zwei unterschiedliche Taktvorzeichnungen vorgesehen hatte. Daraufhin improvisierte er, immer noch mit der Rechten und in halbem Tempo, die aufsteigende Linie der Celli, die er mehrere Male abgewandelt spielte, bis er zufrieden war. Er arbeitete den neuen Part aus, der im obersten Bereich des Tonumfangs der Celli lag und nach furioser, aber gebändigter Energie klingen würde. Diese später, im letzten Abschnitt der Sinfonie, freizusetzen wäre eine Freude.
    Er entfernte sich vom Flügel und schenkte sich etwas Kaffee ein, den er wie gewöhnlich an seinem Fensterplatz zu sich nahm. Halb vier und schon so dunkel, daß er die Beleuchtung würde einschalten müssen. Molly war zu Asche geworden. Er würde die Nacht durcharbeiten und bis zum Mittagessen schlafen. Eigentlich gab es nicht viel anderes zu tun. Etwas Schöpferisches leisten, und dann sterben. Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, durchquerte er wieder das Zimmer und blieb vor dem Flügel stehen. Im Mantel über die Klaviatur gebeugt, spielte er im matten Dämmerlicht mit beiden Händen die Noten, die er aufgezeichnet hatte. Beinahe richtig, beinahe die Wahrheit. Sie suggerierten eine kühle Sehnsucht nach etwas, nach jemand [28]  Unerreichbarem. In einer solchen Stimmung, wenn er zu ruhelos war, um lange am Flügel zu sitzen, und zu aufgewühlt von neuen Einfällen, um davon abzulassen, pflegte er Molly anzurufen und zu sich zu bitten. Wenn sie Zeit hatte, kam sie vorbei und machte Tee oder mixte exotische Cocktails und setzte sich in den abgewetzten alten Lehnsessel in der Ecke. Entweder sie unterhielten sich, oder sie ließ sich etwas vorspielen und lauschte mit geschlossenen Lidern. Für eine ausgesprochene Partygängerin hatte sie einen erstaunlich strengen Geschmack. Bach, Strawinsky und nur gelegentlich auch Mozart. Aber damals war sie kein Mädchen mehr, nicht länger seine Geliebte. Sie kamen gut aus, gingen aber zu nüchtern miteinander um, als daß sie Leidenschaft füreinander empfunden hätten, redeten dafür aber um so freier über ihre jeweiligen Liebschaften. Sie war wie eine Schwester und beurteilte seine Frauen mit sehr viel größerem Edelmut, als er ihren Männern je entgegenbrachte. Ansonsten unterhielten sie sich über Musik oder übers Essen. Jetzt war sie feine Asche in einer alabasternen Urne, die George auf seinem Kleiderschrank aufbewahrte.
    Endlich war ihm warm genug, auch wenn es ihn in der linken Hand noch kribbelte. Er zog den Mantel aus und warf ihn über Mollys Sessel. Bevor er an den Flügel zurückkehrte, lief er im Zimmer umher und schaltete die Lichter ein. Mehr als zwei Stunden lang bastelte er an dem Cellopart herum und skizzierte weitere Orchesterstimmen, blind gegen die Dunkelheit draußen und taub gegen den gedämpften, mißtönenden Orgelpunkt des abendlichen Stoßverkehrs. Es handelte sich nur um eine Überleitung zum Finale; was ihn faszinierte, war die Verheißung, war [29]  das Ziel – er stellte sich die Überleitung als alte Treppe mit ausgetretenen Stufen vor, die sich dem Auge sanft entzog –, war die Sehnsucht, weiter hinanzusteigen und über eine ausgedehnte Modulation endlich bei einer entlegenen Tonart, mit Hilfe hauchdünner, verhallender Klänge, so als zerrissen Nebelschleier, bei einer abschließenden Melodie, einem Valet, einer sanglichen Weise von schmerzlicher Schönheit anzulangen, die ihren altmodischen Charakter transzendieren würde und das ausgehende Jahrhundert mit all seiner sinnlosen Grausamkeit sowohl zu betrauern wie seinen glänzenden Erfindungsreichtum zu feiern schien. Lange nachdem sich die Spannung der Uraufführung gelegt hätte, lange nachdem die Feierlichkeiten zur Jahrtausendwende, das Feuerwerk, die Analysen und zusammengestümperten Geschichtsbücher abgetan wären, würde diese unwiderstehliche Melodie erhalten bleiben – eine Elegie auf das tote Jahrhundert.
    Dies war nicht nur Clives Traum, sondern auch der des Ausschusses, der das Werk in Auftrag gegeben und einen Komponisten
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