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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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hochspekulativen Essays eines Kollegen von Noam Chomsky, die er gelesen hatte, als er im Hause des Mannes auf Cape Cod seinen Urlaub verbrachte: Unsere Fähigkeit, Rhythmen, Melodien und gefällige Harmonien zu »verstehen«, sei ebenso wie unser spezifisch menschliches Spracherwerbsvermögen genetisch verankert. Den Anthropologen zufolge existierten diese drei Elemente in allen musikalischen Kulturen. Unser Ohr für Harmonien sei fest kodiert. (Überdies seien Disharmonien ohne einen umgebenden Kontext von Harmonien sinnlos und uninteressant.) Einen Melodiebogen zu verstehen sei ein komplexer geistiger Akt, der jedoch bereits von einem Kleinkind geleistet werden könne; wir seien in ein Erbe hineingeboren als homo musicus; daher schließe die Definition von Schönheit in der Musik eine Definition der menschlichen Natur ein, was uns zurückführe zu unserer Humanität und der Mitteilsamkeit…
    Die Veröffentlichung von Clive Linleys Zur Erinnerung an die Schönheit fiel zeitlich mit der Uraufführung seiner Symphonischen Derwische für virtuose Streicher in der Wigmore Hall zusammen, ein Werk von so kaskadenhaft polyphoner Brillanz, welches von einem so hypnotischen [33]  Klagegesang unterbrochen wurde, daß es ebenso erbitterte Gegner wie begeisterte Anhänger fand und auf diese Weise seinen Ruf und den Absatz seines Buches sicherstellte.
    Vom schöpferischen Aspekt einmal abgesehen, ist die Komposition einer Sinfonie allein schon eine körperliche Anstrengung. Jede Sekunde gespielter Musik beinhaltet Note für Note die Niederschrift der Stimmen von bis zu zwei Dutzend Instrumenten, man muß sie sich auf dem Piano vorspielen, Korrekturen an der Partitur vornehmen, sie noch einmal von vorne spielen, sie umschreiben, dann still dasitzen und lauschen, wie das innere Ohr die vertikale Anordnung von Kritzeleien und Streichungen zusammenhört und instrumentiert, sie nochmals ausbessern, bis der Takt »sitzt«, und sie erneut spielen. Bis Mitternacht hatte Clive die aufsteigende Passage erweitert und zur Gänze ausgearbeitet und wollte an dem großen Orchesterzwischenstück arbeiten, das dem allmählichen Tonartenwechsel vorangehen sollte. Um vier Uhr morgens hatte er die wichtigsten Partien fertig und wußte genau, wie die Modulation funktionieren, der Nebel weichen würde.
    Er erhob sich vom Flügel, erschöpft, zufrieden mit den Fortschritten, die er erzielt hatte, aber ängstlich: Er hatte den geballten Orchesterapparat an einen Punkt geführt, wo er mit der eigentlichen Arbeit am Finale beginnen konnte – das aber konnte er nur mit Hilfe eines glänzenden Einfalls: der abschließenden Melodie in ihrer ersten und einfachsten Gestalt, schmucklos vorgestellt von einem Solo-Blasinstrument, vielleicht auch von den ersten Geigen. Er war zum innersten Kern vorgedrungen und fühlte die Bürde. Er schaltete die Lichter aus und ging in sein Schlafzimmer [34]  hinunter. Er verfügte nicht einmal über die vorläufige Skizze eines musikalischen Einfalls, nicht ein Fitzelchen, nicht einmal eine vorläufige Ahnung, und er würde auch nicht darauf kommen, wenn er am Flügel sitzen blieb und die Stirn in steile Falten legte. Der Einfall würde sich zu gegebener Zeit einstellen. Aus Erfahrung wußte er, daß er sich entspannen, Abstand gewinnen, dabei aber wachsam und empfänglich bleiben mußte. Er würde eine lange Wanderung oder gar eine ganze Reihe langer Wanderungen in der freien Natur unternehmen müssen. Er brauchte Berge, einen weiten Himmel. Vielleicht den Lake District. Die besten Einfälle kamen immer überraschend, nach dreißig Kilometern, wenn er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
    Als er endlich in völliger Dunkelheit auf dem Rücken im Bett lag, angespannt und vor geistiger Anstrengung ganz kribbelig, sah er gezackte Streifen in den Primärfarben über seine Netzhaut huschen, sich wölben und sich zu Sonnenkugeln ballen. Seine Füße waren eiskalt, seine Arme und seine Brust heiß. Die Sorge um seine Arbeit verwandelte sich in das unedlere Metall einfacher nächtlicher Ängste: Krankheit und Tod, Abstraktionen, die sich alsbald an der Empfindung festmachten, welche er in der linken Hand verspürte. Diese war kalt, starr und prickelig, als hätte er eine halbe Stunde lang auf ihr draufgesessen. Er massierte sie mit der Rechten und legte sie sich auf den warmen Bauch. War das nicht die gleiche Empfindung, die Molly verspürt hatte, als sie vor dem Dorchester Grill ein Taxi heranwinkte? Er hatte keine Gefährtin,
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