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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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keine Frau, keinen George, der ihn pflegte, und vielleicht war das ein Segen. [35]  Aber was statt dessen? Er wälzte sich auf die Seite und zog die Decken fester um sich. Das Pflegeheim, im Tagesraum den Fernseher, Bingo und die alten Männer mit ihren Kippen, ihrer Pisse, ihrem Gesabber. Das würde er nicht aushalten. Am Morgen würde er einen Arzt aufsuchen. Aber genau das hatte auch Molly getan, und man hatte sie zu Untersuchungen fortgeschickt. Man konnte den Niedergang handhaben, aber nicht verhindern. Also, halte dich fern, überwache deinen Verfall, und wenn es nicht länger möglich ist, zu arbeiten oder in Würden zu leben, versetze dir den Gnadenstoß. Aber wie konnte er sich daran hindern, jenen Punkt zu überschreiten, den Molly so rasch erreicht hatte, an dem er zu hilflos, zu verwirrt, zu umnachtet wäre, um sich umzubringen?
    Lächerliche Gedanken! Er setzte sich auf, tastete nach der Nachttischlampe und zog unter einer Illustrierten die Schlaftabletten hervor, die er eigentlich lieber mied. Er nahm eine und lehnte sich langsam kauend in die Kopfkissen zurück. Wieder massierte er sich die Hand und tröstete sich mit vernünftigen Gedanken. Seine Hand war der Kälte ausgesetzt gewesen, das war alles, und er war übermüdet. Seine eigentliche Aufgabe im Leben bestand darin, zu arbeiten, eine Sinfonie zu vollenden, indem er zu ihrem lyrischen Höhepunkt hinfand. Was ihn eine Stunde zuvor noch deprimiert hatte, wurde ihm jetzt zum Trost, und nach zehn Minuten löschte er das Licht und drehte sich auf die Seite: Arbeit würde es immer geben. Er würde im Lake District wandern gehen. Die magischen Namen wirkten beruhigend auf ihn: Blea Rigg, High Stile, Pavey Ark, Swirl How. Er würde durch das Langstrath Valley wandern, den [36]  Wasserlauf überqueren, zum Scafell Pike aufsteigen und über Allen Crags wieder heimkehren. Er kannte den Rundweg gut. Wenn er ausschritt, hoch oben auf dem Kamm, würde er neue Kräfte sammeln, wieder klarsehen.
    Er hatte seinen Schierlingsbecher geleert, jetzt würden ihn keine Hirngespinste mehr quälen. Auch dieser Gedanke war tröstlich. So hatte er denn lange, bevor die Chemikalien zu seinem Gehirn vordrangen, die Knie an die Brust gezogen und war entschlummert. Hard Knott, Ill Bell, Cold Pike, Poor Crag, Poor Molly. Arme Molly…

[37]  II

[39]  1
    Während einer untypischen Flaute am Vormittag schoß Vernon Halliday der Gedanke durch den Kopf, daß er womöglich gar nicht existierte. Volle dreißig Sekunden lang hatte er an seinem Schreibtisch gesessen, mit den Fingerspitzen sanft seinen Schädel befühlt und sich Sorgen gemacht. Seit seiner Ankunft in der Redaktion des Judge vor zwei Stunden hatte er, ausführlich und unter vier Augen, mit vierzig Personen geredet. Und nicht nur geredet: In all diesen Gesprächen bis auf zwei hatte er Entscheidungen gefällt, Prioritäten gesetzt, Aufgaben delegiert, eine Wahl getroffen oder eine Ansicht vertreten, die nur als Anweisung gedeutet werden konnte. Anders als sonst schärfte die Ausübung seiner Machtbefugnis sein Gefühl, er selbst zu sein, durchaus nicht; statt dessen wollte es Vernon vorkommen, als sei er unendlich ausgedünnt; er war nur noch die Summe all der Leute, die ihm zugehört hatten, und sobald er allein war, war er ein Nichts. Wenn er, in seiner Einsamkeit, nach einem Gedanken suchte, war da niemand, der ihn denken konnte. Sein Sessel war leer; er selbst fein über das ganze Gebäude verteilt, von der Finanzredaktion im sechsten Stock, wo er sich einschalten wollte, um die Entlassung einer altgedienten Redakteurin zu verhindern, die nicht rechtschreiben konnte, bis zum Kellergeschoß, wo die Zuteilung von Parkplätzen leitende Angestellte zum offenen [40]  Aufruhr und einen Redaktionsassistenten an den Rand der Kündigung getrieben hatte. Vernons Sessel war leer, denn er weilte in Jerusalem, im Unterhaus, in Kapstadt und Manila, wie Staub in alle Winde verstreut; er war im Fernsehen und im Radio, mit irgendwelchen Bischöfen zum Dinner, hielt eine Ansprache vor der Ölindustrie oder veranstaltete ein Seminar für EU -Experten. In den kurzen Augenblicken des Tages, wenn er allein war, erlosch ein Licht. Selbst das darauffolgende Dunkel umfing oder störte niemanden im besonderen. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, daß die Abwesenheit die seinige war.
    Dieses Gefühl der Abwesenheit war seit Mollys Begräbnis noch gewachsen. Es zermürbte ihn. Vergangene Nacht war er neben seiner schlafenden Frau
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