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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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ausgewählt hatte, für den die Erfindung einer solchen wie uralte, steinerne Treppenstufen aufsteigenden Passage charakteristisch war. Selbst seine Anhänger mußten, zumindest in den siebziger Jahren, einräumen, daß er »erzkonservativ« war (seine Kritiker zogen den Ausdruck »atavistisch« vor), aber alle Welt war sich einig, daß Linley so wie Schubert und McCartney eine Melodie komponieren konnte. Das Werk war frühzeitig in Auftrag gegeben worden, damit es sich ins Bewußtsein der Öffentlichkeit »einschmeicheln« konnte; so hatte man beispielsweise Clive gegenüber angedeutet, eine lärmende, drängende [30]  Blechbläserpassage könne als Erkennungsmelodie für die Abendnachrichten im Fernsehen verwendet werden. Vor allem aber war dem Ausschuß, dessen Mitglieder das musikalische Establishment als »geistige Normalverbraucher« abstempelte, an einer Sinfonie gelegen, aus der sich wenigstens eine Weise, eine Hymne, eine Elegie für das vielgescholtene vergangene Jahrhundert herausdestillieren ließe, die man für offizielle Veranstaltungen vereinnahmen konnte, so wie »Nessun dorma« für ein Fußballturnier. Erst vereinnahmen und dann wieder freigeben, damit sie während des dritten Jahrtausends ein unabhängiges Dasein im öffentlichen Bewußtsein führen könne.
    Für Clive Linley war die Angelegenheit einfach. Er betrachtete sich als Nachfolger von Vaughan Williams und hielt Bezeichnungen wie »konservativ« für unerheblich, für eine irrige Anleihe beim Wortschatz der Politik. Außerdem waren atonale und aleatorische Musik, Tonreihen, Elektronik, der Zerfall der tonalen Funktionen zu bloßem Schall – mit einem Wort: das ganze Projekt der Moderne – während der siebziger Jahre, als er erstmals Aufmerksamkeit erregt hatte, zur orthodoxen Lehre geworden, die an den Musikhochschulen vermittelt wurde. Zweifellos waren deren Befürworter die Reaktionäre, nicht er. 1975 hatte er ein hundert Seiten umfassendes Buch veröffentlicht, das, wie alle guten Manifeste, Angriff und Rechtfertigung in einem war. Die alte Garde der Moderne habe die Musik in die höheren Lehranstalten gesperrt, wo sie eifersüchtig professionalisiert, isoliert und sterilisiert werde und ihr lebenswichtiger Bund mit dem allgemeinen Publikum hochmütig gelöst worden sei. Hämisch schilderte Clive ein öffentlich [31]  subventioniertes »Konzert« in einem beinahe menschenleeren Gemeindesaal, bei dem über eine Stunde lang mit einem abgebrochenen Geigenhals auf die Beine eines Klaviers eingedroschen worden war. Im Programmheft wurde unter Verweis auf den Holocaust erläutert, weshalb in dieser Phase der europäischen Geschichte andere Musikformen nicht mehr lebensfähig seien. Clive behauptete, in den Augen kleingeistiger Eiferer sei jede Form von Erfolg, wie immer begrenzt, jede Wertschätzung durch das Publikum ein sicheres Zeichen für ästhetisches Kompromißlertum und Mißlingen. Wenn die maßgebliche Geschichte der westlichen Musik im 20.   Jahrhundert geschrieben sei, werde sich herausstellen, daß der Triumph dem Blues, Jazz, Rock und den sich ständig weiterentwickelnden Traditionen der Volksmusik gebühre. Diese Formen bewiesen zur Genüge, daß sich Melodie, Harmonie und Rhythmus durchaus mit Erneuerung vertrügen. Von der ernsten Musik werde im wesentlichen nur die erste Hälfte des Jahrhunderts vorkommen, und auch dann nur bestimmte Komponisten, unter die Clive nicht den späten Schönberg und »seinesgleichen« zählte.
    Soweit der Angriff. Die Rechtfertigung war dem abgedroschenen Kunstgriff des Predigers Salomo abgeschaut und trieb diesen auf die Spitze: Alles habe seine Zeit. Nun sei es an der Zeit, die Musik den Kommissaren zu entreißen, und es sei an der Zeit, wieder die unerläßliche Mitteilsamkeit der Musik geltend zu machen, denn in Europa habe sie stets in einer humanistischen Tradition gestanden, die sich zum Geheimnis der menschlichen Natur bekenne; es sei an der Zeit, zu akzeptieren, daß eine öffentliche [32]  Aufführung eine »säkulare Kommunion« sei, und es sei an der Zeit, den Vorrang des Rhythmus und der Tonrelation und die elementare Natur der Melodie anzuerkennen. Damit dies geschehen könne, ohne lediglich die Musik der Vergangenheit zu beschwören, müßten wir eine zeitgenössische Definition von Schönheit entwickeln, und dies wiederum sei nicht möglich, ohne eine »grundlegende Wahrheit« zu begreifen. An dieser Stelle bediente Clive sich kühn bei einigen unveröffentlichten und
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