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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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zu verrenken beginnt. Aber sie hatte doch sicherlich Gefühlswärme bevorzugt. Lieg still, sieh mich an, sieh mich richtig an. Vielleicht war es nur ein Irrtum, Molly und Garmony. Wie auch immer, der Gedanke war Clive unerträglich.
    Der Außenminister kam zum Schluß: »Dies sind die Traditionen, die uns zu dem machen, was wir sind.«
    »Ich frage mich«, sagte Clive zu Mollys ehemaligem Liebhaber, »ob Sie immer noch für die Todesstrafe eintreten.«
    Garmony war durchaus in der Lage, mit diesem plötzlichen Themenwechsel fertig zu werden, aber sein Blick wurde stahlhart.
    »Ich glaube, die meisten Menschen kennen meine diesbezügliche Position. Einstweilen bin ich damit zufrieden, die Auffassung des Parlaments und die kollektive Verantwortung des Kabinetts zu akzeptieren.« Er hatte sich aus der Affäre gezogen, gleichzeitig knipste er seinen Charme an.
    Die beiden Journalisten schoben sich mit ihren Notizbüchern etwas näher heran.
    »In einer Rede sollen Sie einmal gesagt haben, Nelson Mandela verdiene es, gehängt zu werden.«
    [24]  Garmony, der im folgenden Monat Südafrika besuchen sollte, lächelte gelassen. Die Rede war unlängst von Vernons Zeitung in recht verleumderischer Absicht ans Tageslicht gezerrt worden. »Ich glaube nicht, daß Sie Leuten Dinge vorhalten können, die sie als hitzköpfige Studenten geäußert haben.« Er hielt inne und lachte glucksend. »Ich wette, vor fast dreißig Jahren haben Sie selber auch ein paar ziemlich schockierende Dinge geäußert oder gedacht.«
    »Gewiß«, sagte Clive. »Genau darauf wollte ich hinaus. Wenn Sie sich damals durchgesetzt hätten, bestünde heute wohl kaum noch eine Chance zum Umdenken.«
    Garmony neigte kurz bejahend den Kopf.
    »Ein ziemlich stichhaltiges Argument, Mr.   Linley. Doch Irren ist menschlich, kein Rechtssystem der Welt ist davon frei.«
    Dann tat der Außenminister etwas ganz Außergewöhnliches, das Clives Theorie über die Auswirkungen öffentlicher Ämter vollkommen erschütterte und das er im nachhinein zu bewundern genötigt war. Garmony streckte die Hand aus, faßte Clive mit Zeigefinger und Daumen am Mantelrevers, zog ihn zu sich heran und sprach mit einer Stimme, die kein anderer verstehen konnte: »Als ich Molly das allerletzte Mal sah, hat sie mir gesagt, daß Sie impotent sind und es schon immer waren.«
    »Völliger Unsinn. Das hat sie nie gesagt.«
    »Natürlich müssen Sie das bestreiten. Die Sache ist nur die, wir könnten es in aller Lautstärke vor den Herren dort drüben erörtern, oder Sie gehen mir von der Pelle und verabschieden sich höflich. Soll heißen: Verpiß dich!«
    Garmony sprach schnell, aber mit Nachdruck, und so [25]  bald er zu Ende geredet hatte, lehnte er sich zurück, drückte dem Komponisten strahlend die Hand und rief seinem Referenten zu: »Mr.   Linley war so freundlich, die Einladung zu einem Dinner anzunehmen.« Letzteres mochte ein verabredeter Code gewesen sein, denn der junge Mann trat prompt herbei, um Clive hinwegzugeleiten, während Garmony ihm den Rücken kehrte und zu den Journalisten sagte: »Großartiger Mann, dieser Clive Linley. Meinungsverschiedenheiten austragen und doch Freunde bleiben – die Quintessenz zivilisierten Lebens, meinen Sie nicht?«

[26]  2
    Eine Stunde später setzte Vernons Wagen, der dafür, daß er einen Chauffeur hatte, aberwitzig klein war, Clive in South Kensington ab. Vernon stieg aus, um sich von ihm zu verabschieden.
    »Gräßliches Begräbnis.«
    »Nicht mal was zu trinken.«
    »Arme Molly.«
    Clive sperrte auf und trat ins Haus. In der Diele blieb er stehen und ließ die Wärme der Heizkörper und die Stille auf sich wirken. Auf einem Zettel seiner Haushälterin stand, daß in seinem Arbeitszimmer eine Thermoskanne Kaffee auf ihn warte. Noch immer im Mantel, ging er hinauf, nahm einen Bleistift und einen Bogen Notenpapier zur Hand und kritzelte, am Konzertflügel lehnend, die zehn absteigenden Töne hin. Er stellte sich ans Fenster, starrte auf das Blatt und versuchte sich die kontrapunktisch aufsteigenden Celli vorzustellen. Es gab viele Tage, an denen der Auftrag, zur Jahrtausendwende eine Sinfonie zu komponieren, eine lächerliche Zumutung war: eine bürokratische Einmischung in seine künstlerische Autonomie; dann das Hin und Her in der Frage, wo Giulio Bo, der große italienische Dirigent, mit dem Britischen Sinfonieorchester proben könne; die milde, aber anhaltende Belästigung durch Nachstellungen einer allzu aufgeregten oder feindseligen
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