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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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stimmen.«
    »Aber an Molly erinnern Sie sich doch noch?« fragte Clive.
    »An wen?« Zwei Sekunden lang verzog Pullman nicht das Gesicht, dann lachte er gackernd und umklammerte mit mageren, weißen Fingern Clives Unterarm. »Aber natürlich«, sagte er mit seiner Bugs-Bunny-Stimme. »Molly und ich kannten uns schon ’65 im East Village. Und ob ich mich an Molly erinnere. Junge, Junge!«
    Clive verhehlte seine Beunruhigung, als er nachrechnete. Im Juni dieses Jahres mußte sie sechzehn geworden sein. Warum hatte sie es nie erwähnt? Scheinbar unbeteiligt stieß er nach.
    [18]  »Sie kam im Sommer herüber, nehme ich an?«
    »Nee, nee. Sie kam am Vorabend von Dreikönige auf meine Party. Was für ein Mädel, was, George?«
    Also Unzucht mit Minderjährigen. Drei Jahre vor ihm. Von Hart Pullman hatte sie ihm nie erzählt. Und war sie nicht zur Uraufführung von Rage gekommen? War sie hinterher nicht mit ins Restaurant gegangen? Clive konnte sich an nichts erinnern. Nicht an den kleinsten Fick.
    George hatte sich abgewandt, um mit den Schwestern aus Amerika zu reden. Clive, der fand, daß er nichts zu verlieren hatte, hielt eine Hand vor den Mund und beugte sich hinab, um in Pullmans Ohr zu flüstern.
    »Du hast sie nie gefickt, du verlogenes Reptil. Dazu hätte sie sich nicht herabgelassen.«
    Er hatte gar nicht vorgehabt, schon jetzt zu gehen, denn er wollte Pullmans Antwort hören, doch in diesem Augenblick drängten von links und rechts zwei lärmende Gruppen herbei, die eine, um George zu kondolieren, die andere, um den Dichter zu ehren, und in dem Gewoge fand Clive seine Freiheit wieder und ging davon. Hart Pullman und Molly als Teenager. Angeekelt schob er sich weiter durch die Menge, bis er zu einer kleinen Lichtung gelangte. Dort blieb er, glücklicherweise unbehelligt, stehen und sah sich nach den Freunden und Bekannten um, die in Gespräche vertieft waren. Er fand, er war der einzige, der Molly wirklich vermißte. Hätte er sie geheiratet, hätte er sich womöglich noch schlimmer aufgeführt als George und nicht einmal diese Versammlung geduldet. Und ihre Hilflosigkeit auch nicht. Aus dem kleinen, fast quadratischen braunen Plastikfläschchen hätte er dreißig Schlaftabletten [19]  auf seine Hand geschüttet. Stößel und Mörser, ein Glas Whisky. Drei Eßlöffel voll weißgelben Breis. Molly hätte sie zu sich genommen und ihn angesehen, als wisse sie Bescheid. Mit der Linken hätte er sie unterm Kinn gefaßt, um aufzufangen, was ihr aus den Mundwinkeln floß. Er hätte sie im Arm gehalten, bis sie eingeschlafen wäre, und noch die ganze Nacht hindurch.
    Außer ihm fehlte sie keinem hier. Er sah sich unter seinen Mittrauernden um, von denen viele in seinem Alter waren, in Mollys Alter, plus minus ein oder zwei Jahre. Wie wohlhabend, wie einflußreich sie waren, wie sie prosperiert hatten unter einer Regierung, die sie beinahe siebzehn Jahre lang verachtet hatten! Talking ’bout my generation. Diese Tatkraft, dieser unverschämte Dusel! Im Sozialstaat der Nachkriegszeit genährt von Milch und Honig des Staates, danach verwöhnt vom zaghaft-unschuldigen Wohlstand ihrer Eltern, mündig dann in einer Zeit der Vollbeschäftigung mit neuen Universitäten und bunten Taschenbüchern, dem augusteischen Zeitalter des Rock   'n'   Roll, der erschwinglichen Ideale. Als die Leiter hinter ihnen bröckelte, als der Staat seine Zitzen verweigerte und zum Hausdrachen wurde, saßen sie schon im trockenen, konsolidierten sich und ließen sich häuslich nieder, um dieses oder jenes zu bilden – Geschmack, Meinungen, Vermögen.
    Er hörte, wie eine Frau fröhlich rief: »Mir frieren Hände und Füße ab, ich gehe jetzt!« Als er sich umdrehte, bemerkte er hinter sich einen jungen Mann, der ihn gerade an der Schulter berühren wollte. Er war Mitte Zwanzig, glatzköpfig oder kahlgeschoren und trug einen grauen Anzug ohne Mantel.
    [20]  »Mr.   Linley? Tut mir leid, daß ich Sie aus Ihren Gedanken reiße«, sagte der Mann und zog seine Hand zurück.
    Clive nahm an, daß es sich um einen Musiker handelte oder um jemanden, der ihn um ein Autogramm bitten wollte, und ließ sein Gesicht zu einer Maske der Langmut erstarren. »Ist schon recht.«
    »Ob Sie sich wohl auf einen Moment zum Außenminister hinüberbemühen könnten? Er ist sehr daran interessiert, Sie kennenzulernen.«
    Clive schürzte die Lippen. Zwar wollte er Julian Garmony nicht vorgestellt werden, doch wollte er sich auch nicht die Mühe machen, ihn zu
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