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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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denn je, allein zu sein, und komponierte in weniger als einem Monat die Drei Herbstlieder.
    »Hast du je etwas von ihr gelernt?« fragte Clive plötzlich.
    Mitte der achtziger Jahre, während der Ferien auf einem Gut in Umbrien, hatte auch Vernon zum zweiten Mal in den Apfel gebissen. Damals war er Romkorrespondent der Zeitung gewesen, deren Chefredakteur er jetzt war, und verheiratet.
    [15]  »Ich kann mich an Sex nie erinnern«, sagte Vernon nach einigem Zögern. »Ich bin sicher, es war herrlich. Aber ich erinnere mich noch daran, was sie mir alles über porcini beigebracht hat, wie man sie sammelt, wie man sie zubereitet.«
    Clive nahm an, daß dies eine Ausflucht war, und entschied sich gegen Vertraulichkeiten von seiner Seite. Er blickte zum Kapelleneingang hin. Sie würden hinübergehen müssen. Er überraschte sich selbst mit der ziemlich brutalen Bemerkung: »Weißt du, ich hätte sie heiraten sollen. Als ihr Verfall einsetzte, hätte ich sie mit einem Kissen oder dergleichen umgebracht und sie vor jedermanns Mitleid bewahrt.«
    Vernon lachte, während er seinen Freund vom Garten der Besinnung fortlotste. »Leicht gesagt. Ich sehe dich schon Gefängnishofhymnen für Sträflinge schreiben, wie diese, wie heißt sie doch gleich, die Suffragette.«
    »Ethel Smyth. Besser als die würde ich es allemal hinkriegen.«
    Mollys Freunde, aus denen die Trauergemeinde sich zusammensetzte, hätten es vorgezogen, sich nicht in einem Krematorium aufhalten zu müssen, doch George hatte deutlich gemacht, daß es keinen Gedächtnisgottesdienst geben würde. Er wollte nicht, daß auf der Kanzel von St.   Martin’s oder St.   James’s drei frühere Liebhaber in aller Öffentlichkeit Notizen verglichen oder Blicke tauschten, wenn er seine eigene Rede hielt. Als Clive und Vernon auf ihn zutraten, hörten sie das vertraute Gebrabbel einer Cocktailparty. Keine Tabletts mit Champagner, keine Restaurantwände, die den Schall zurückwarfen, ansonsten jedoch hätte man sich ebensogut auf einer weiteren [16]  Vernissage befinden können, bei einem weiteren Medienereignis. So viele Gesichter, die Clive noch nie bei Tageslicht gesehen hatte und die schauerlich aussahen, wie Leichname, aus den Gräbern auffahrend, um die neue Tote willkommen zu heißen. Belebt von diesem jähen Anfall von Misanthropie, bewegte er sich geschmeidig durch den Lärm, überhörte seinen Namen, als man nach ihm rief, zog seinen Ellbogen ein, wenn man daran zupfte, und hielt weiter auf George zu, der sich gerade mit zwei Frauen und einem verhutzelten alten Kauz mit Filzhut und Stock unterhielt.
    »Es ist zu kalt, wir müssen gehen«, hörte Clive jemanden ausrufen, doch für den Augenblick vermochte sich der Zentripetalkraft eines gesellschaftlichen Anlasses niemand zu entziehen. Vernon, der von dem Besitzer eines Fernsehsenders beseite genommen worden war, hatte er bereits aus den Augen verloren.
    Endlich hatte Clive Gelegenheit, sein aufrichtiges Mitgefühl angemessen herauszukehren und George die Hand zu drücken. »Eine wunderbare Zeremonie.«
    »Es ist sehr nett von dir, daß du gekommen bist.«
    Ihr Tod hatte ihn geadelt. Der ruhige Ernst paßte überhaupt nicht zu ihm – er hatte stets ebenso bedürftig wie verdrießlich dreingeschaut; ängstlich besorgt, daß man ihn mochte, aber außerstande, Freundlichkeit als selbstverständlich anzusehen. Die Bürde der Superreichen.
    »Entschuldige«, fügte er hinzu, »das sind die Schwestern Finch – Vera und Mini –, die Molly aus ihrer Zeit in Boston kannten. Clive Linley.«
    Sie schüttelten einander die Hand.
    »Sie sind der Komponist?« fragte Vera oder Mini.
    [17]  »Richtig.«
    »Ist mir eine große Ehre, Mr.   Linley. Für ihre Violinprüfung hat meine elfjährige Enkelin Ihre Sonatine einstudiert. Hat ihr ausnehmend gut gefallen.«
    »Freut mich zu hören.«
    Der Gedanke, daß seine Musik von Kindern gespielt wurde, deprimierte ihn leicht.
    »Und das«, sagte George, »ist Hart Pullman, ebenfalls aus den Staaten.«
    »Hart Pullman! Endlich! Erinnern Sie sich noch? Ich habe Ihre Rage -Gedichte für Jazzband vertont.«
    Pullman war der Beat-Lyriker, der letzte Überlebende der Kerouac-Generation, ein verschrumpftes, echsenhaftes Männlein, das Mühe hatte, seinen Hals so zu verdrehen, daß es zu Clive hinaufschauen konnte. »Dieser Tage erinnere ich mich an nichts mehr, nicht an den kleinsten Fick«, sagte er liebenswürdig mit zwitschernder Fistelstimme. »Aber wenn Sie es sagen, wird es wohl
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