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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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… zuletzt gehörten uns nur noch die beiden Apfelgärten in Wilten, aber auch die waren bald in der fremdesten Hand … im letzten Jahrzehnt hatte unser Vater das Geld in den schönen italienischen Städten Mantua und Turin, wo er Freunde hatte, in Rom, Venedig und Genua, in Trient und Bozen verspielt und vertrunken … der erste, der allerschmerzlichste aller Verluste: die Muttereralm, der Passeiersteinbruch … Die Hypotheken, die Schulden in Vorarlberg hatten schon früh unser Leben verdunkelt … die Eltern schützten uns zwar vor der Finsternis, wir tappten aber doch immer wieder, schon als Kinder, in die von den Eltern geworfenen Schatten … Vor allem die dauernde Bettlägerigkeit unserer Mutter, die immerfort Hilfe beansprucht und, wenn auch sanft, ihre Leiden schließlich zum Mittelpunkt unseres Lebens gemacht hatte, deprimierte uns ununterbrochen … durch die monotone Trübsinnigkeit aller Jahre waren wir schon bald nicht mehr für die Gesundheit zu gewinnen gewesen … unszerstörte auch das uns zur Gewohnheit gewordene Ausund Eingehen aller möglichen größenwahnsinnigen Ärzte, Innsbrucker Okkultisten, Gläubiger in unserem Elternhaus … Naturgemäß war uns bald nichts als der Selbstmord geblieben, der uns alle vier ausrottende, liquidierende … Wie gut, daß die Eltern uns nicht mehr er leben mußten … Jetzt, unter der Aufklärung unseres Onkels, der immer mit vielen Papieren aus der Stadt herauf in den Turm kam, sahen wir beide erst, wie durchlöchert unser aller Existenz schon immer gewesen war.
    In dem von einer Unzahl alljährlicher Erdbebenstöße völlig verschont gebliebenen, von uns immer durch einen Eichenholzbalken verriegelten und so gegen das Verbrechergesindel abgesicherten Turm, in den Kellern sowie auf dem Dachboden, waren, im Hinblick auf von unserem Onkel befürchtete Katastrophen, Lebensmittel für mehrere Jahre gestapelt … doch wir rührten sie niemals an, sondern begnügten uns am Morgen mit der uns von einem der Gartenarbeiter auftragsgemäß vor die Turmtür gestellten Milch und dem dazugehörenden frischen Brot; zu Mittag aßen wir Äpfel und Birnen, mit welchen der obere wie der untere Boden angefüllt waren; am Abend machten wir uns auf dem offenen Feuer der Schwarzen Küche eine Kanne voll Wein heiß (Lebenberger, Küchelberger, Greifener …), die wir schweigend auf unseren Strohsäcken austranken; dazu aßen wir von dem Rauchfleisch, das in der Schwarzen Küche hing … das von der Decke der Schwarzen Küche herunterhängende Rauchfleisch war uns, die wir augenblicklich immer in tödlicher Angst lebten, von Natur aus in einem Anschauungszwang zum Phantastischen, zum Phantastisch-Grausigen neigten, uns zwei in den Turm eingesperrten Köpfen, Gehirnen, uns, die wir zeitlebens in Hochgebirgsfiebern alles ausnahmslos zu zer fühlen und zu zer denken hatten, ein phantastisches Bild von getöteten Militärischen, von aus dem Dunkel der Küchendecke herunterhängendentoten Ärschen und Fersen und Köpfen und Armen und Beinen … eine von unseren Grauenverstärkungsanlagen hervorgerufene Fiktion von Leichen, sich immer rhythmisch zufallenden Männerleichen … Unser Onkel hatte uns erlaubt, von dem Rauchfleisch zu essen, uns schon am ersten Tag, an welchem wir beide darüber erschrocken waren, dazu ermuntert … ich schnitt es uns jeden Abend so kunstvoll als möglich in hauchdünne Blätter und tunkte es uns in den Wein …

D AS A UGSBURGER M ESSR
    ODER DAS M ESSER DER P HILIPPINE W ELSER
    Ich schnitt das Rauchfleisch wie auch das Brot mit dem Messer, das die Philippine Welser 1557 für den Erzherzog Ferdinand aus Augsburg nach Tirol mitgebracht hatte und das in der Schwarzen Küche, zwei Meter von unseren Strohsäcken weg, an der Wand hing. Walter getraute sich nicht mit ihm umzugehen, er fürchtete sich sogar, es nur in die Hand zu nehmen , doch entzückte es ihn, wenn ich, in Handarbeit viel geschickter, damit in das Rauchfleisch hineinschnitt … die ungemein feine, die ›philosophische Ziselierung‹ (Walter) auf beiden Seiten der scharfen Klinge, die Türme der Lechstadt Augsburg darstellend, interessierte uns, gefiel uns … Walter phantasierte oft in der Nacht um das Messer herum … er fürchtete, daß es in seiner Hand nur zur ›Zufügung sonst nicht geschehenden Schmerzes‹ gebraucht werde, in solcher Vorstellung lebte er, was das Messer betrifft, er fürchtete, mit dem ›unserem Onkel gehörenden Kunstwerk aus Augsburg‹, sobald es in seiner Hand wäre,
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