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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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… Ende Februar, einen Tag vor den Anfällen unserer Mutter und Walters, die beide mehrere Stunden dauerten, betraten wir das Gebäude in der Angerergasse für immer zum letzten Male …
    Zwischen Walter und mir herrschte nur noch ein Dämmerzustand, in diesem Dämmerzustand existierten wir nebeneinander wie in und wie gegen die mißbrauchte Vernunft unserer Einverständnisse: wir gehorchten nur noch … Unser beider Verhältnis war nicht ohne Feindschaft … ja in Wahrheit war die durch uns von Natur aus uns angeborene Abneigung zueinander der Quell unserer Zuneigung, unserer Geschwisterverpflichtung, unserer Versteinerung … Wir lebten im größten Schwierigkeitsgrad, in welchem zwei Menschen, die schmerzhaft zusammen sind, zu existieren ertragen können … wir waren uns beide an vielen Tagen so schmerzstillend als nur möglich … das entkräftete uns mit der Zeit … die hohe Kunst, uns zu Hilfe zu kommen, hatten wir schon früh wie niemand beherrscht und sie nach der Katastrophe auch noch entwickeln können … Im Turm waren wir uns plötzlich des Finstersten voll bewußt geworden, in Augenblicken … des Schwachsinns der Möglichkeiten … im Turm waren wir unser selbst bewußt geworden,da schauten wir uns, zum ersten Male, von außen und innen an … Rhythmisch, zu wenn auch qualvoller Zelebration, verbanden wir uns nach dem Tod unserer Eltern in ständiger Scheu vor uns selbst, vor den eigenen Divinationen … die von uns zusammen verbrachte Zeit war für uns eine Zeit ohne Schonzeit … wir setzten sie immer ohne Lust fort und, als wären wir selbst unsere eigene Beobachtungsgabe gewesen, apathisch … Nur der Physik unterworfen, nicht selbst Harmonie, waren wir unser Unglück … In Walter ging dieser Prozeß noch tiefer vor sich … Wir waren in Gegensätzen, zum Beispiel: war ich mit meiner Naturwissenschaft beschäftigt, war Walter von seiner Musik beherrscht, unterkühlt, überhitzt … für Walter war alles aus ihm , für mich aber war nicht das allergeringste aus mir … Das allein wäre Grund genug für die Abhandlung ›Über uns‹ … Aber auch nach der Abhandlung wird, was wir waren, sind, sein werden, in Finsternis bleiben, alles bleibt immer in Finsternis … alles ist immer, ist nicht … unsere Gleichzeitigkeit, Charaktere, Geometrie … von unten nach oben, um höher unten zu sein … Wir lebten ständig, oft inständig, das ist wahr, in gegenseitiger Körperabneigung … das Körperliche, exzentrische Körperliche Walters war das exzentrische Körperliche unserer Mutter gewesen, mir fremd … Mein Körperliches, das unseres Vaters … Wir haben zeitlebens zwischen uns beiden vermittelt … Durch Walters Krankheit war unsere Abneigung (zueinander) Zuneigung (gegeneinander) geworden …
    In den letzten drei Wochen getrauten wir uns hinaus … wagten es aber nicht, uns weiter als nur ein paar Schritte vom Turm zu entfernen … Wir unterhielten uns mit dem Gärtner und mit den Gartenarbeitern, die, weil die Zeit dafür günstig war, die Apfelbäume beschnitten … sie gruben ein Stück der unteren Wiese um, besserten die beiden Böschungen aus … alle machten ihre Arbeiten gründlich… die Älteren kannten wir, Neue waren uns vorgestellt worden … um vier, wenn ich wach war, sah ich auch schon das Licht ihrer Unterkunft auf der Zirkusseite … Ihre Unterhaltungen betrafen die Arbeit, an welcher sie, wie ich sah, Freude hatten (sie waren alle von unserem Onkel gut ausgesucht worden, gut kommandiert), ihre Verwandtschaften, Liebschaften, Lohnverhältnisse, unerfüllbaren Wünsche … Da unser Onkel mehr von der Landwirtschaft als sie alle zusammen verstand, vertrauten sie sich ihm von selbst ohne inneren Widerspruch an, gehorchten sie ihm … mit unserem Onkel kam jeder gut aus … die Leute wußten natürlich von der Katastrophe, das hemmte unseren Umgang mit ihnen … Die sich noch immer beherrschende, schon Farben ansetzende Natur war unser Gesprächsstoff mit ihnen … sie liebten es, wenn wir sie mit ihren Vornamen ansprachen, wenn wir uns mit ihren Familien und Sorgen vertraut zeigten … Die Wirtschaft unseres Onkels war eine der besten im ganzen Inntal und ist es noch heute, er hat sie, in den beiden letzten Jahrzehnten, nicht nur erhalten, sogar vergrößern können: wie wir hörten, bauten die Handwerker für ihn in Aldrans, dem Ort unserer frühesten Kindheit, dem Geburtsort unserer Mutter, ein Forsthaus … die Wälder um Aldrans gehören ihm … für den Sommer plante er einen
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